Schattenwege

Arnaldur Indriðasons jüngst ins Deutsche übertragener Kriminalroman…

Island - vor vielen Jahren...

Island – vor vielen Jahren…

Wenn man bedenkt, dass eine einschlägige Kriminalliteratur in die Bücherwelt Islands, der Literaturnation schlechthin, im Vergleich zu anderen Ländern erst recht spät Einzug gehalten hat, so ist es geradezu verblüffend, wie viele der Autorinnen und Autoren unter den gerade einmal 330.000 Einwohnern der Insel sich heute diesem Genre verschrieben haben.

Manche von ihnen haben ich hier bereits mit der einen oder anderen ihrer Arbeiten vorgestellt, so zum Beispiel Yrsa Sigurðardóttir, Sólveig Pálsdóttir oder Ævar Örn Jósepsson – sie allesamt sind national wie international äußerst erfolgreich in ihrem Tun; unbestritten jedoch ist, dass sie darin von einem noch übertroffen werden, dem Altmeister des isländischen Krimis Arnaldur Indriðason.

Auch ihn habe ich hier bereits gewürdigt, zuletzt anlässlich seines Romans Nacht über Reykjavík, in dem er uns – einer jeden Chronologie in der Schilderung der Lebensgeschichte seines größten Helden zum Trotz – mit dem noch jungen, als Streifenpolizist agierenden Erlendur Sveinsson bekannt macht, der als melancholischer Kommissar in bereits vielen Krimis zuvor den Weltruhm des Autors begründet und – endlich mit sich ins Reine gekommen – längst seinen Abschied vom aktiven Dienst genommen hat.

SkuggasundWer nun allerdings glaubt, man würde in den auf Nacht über Reykjavík folgenden Büchern mehr über Erlendurs Vergangenheit als Streifenpolizist und seinen späteren Werdegang erfahren, den überrascht Arnaldur Indriðason einmal mehr: in seinem 2013 unter dem Titel Skuggasund im Original und jetzt wie gewohnt in der Übersetzung von Coletta Bürling im Lübbe Verlag erschienenen Roman Schattenwege führt er diese Geschichte keineswegs fort, dafür aber einen gänzlich neuen Ermittler ein, den pensionierten Kriminalbeamten Konráð.

Der Tod eines alten Mannes, der sich, wie Konráð von der jetzigen Dezernatsleiterin Marta erfährt, bald als Mord erweist, setzt ihn auf die Spur eines anderen, lange zurückliegenden Mordfalls, der den Toten, einen gewissen Stefán Þórðarson, offensichtlich immer noch beschäftigt. Wie sonst wäre es zu erklären, dass sich auf seinem Tisch Zeitungsberichte über dieses Verbrechen finden…

Damals, wenige Wochen vor der Proklamation der Republik Island und damit der Wiedererlangung der absoluten Souveränität am 17. Juni 1944, also mitten im Krieg und unter amerikanischer Besatzung, war Rósamunda, eine junge Frau, die in einer Schneiderei arbeitete, erdrosselt hinter dem noch im Bau befindlichen Nationaltheater aufgefunden worden. Ingiborg und ein amerikanischer Soldat namens Frank Caroll, die sie sich hier zu einem Liebesstelldichein trafen, waren über die Tote gestolpert, hatten sich aber auf Drängen des Amerikaners aus dem Staub gemacht, ohne das Verbrechen zu melden. Allerdings waren sie bei ihrer Flucht von einer älteren Dame beobachtet worden, die den Fall nun zur Anzeige brachte, so dass Ingiborg bald einer Befragung unterzogen werden konnte. Dabei stellte sich heraus, dass sie und auch ihr amerikanischer Freund Frank an dem Verbrechen selbst unschuldig waren, dieser Freund jedoch ein anderer war als der, den zu sein er vorgab: er hatte sich einen erfundenen Namen zugelegt, um so sein falsches Spiel mit der jungen Isländerin treiben zu können – keine Seltenheit wohl in der damaligen Situation, die nationalbewusste Isländer, für die eine Liaison zwischen einem isländischen Mädchen und einem Besatzungssoldaten als absolut verwerflich galt, gemeinhin als den „Zustand“ bezeichneten.

Der ermittelnde Beamte damals war ein Mann namens Flóvent; zur Seite gestellt war ihm der West-Isländer Thorson, Sohn isländischer Auswanderer nach Kanada, der nun für die Militärpolizei der amerikanischen Streitkräfte tätig war. Arnaldur Indriðason lässt uns als Leser jedoch nicht nur deren akribische Arbeit im Verfolgen auch noch der kleinsten Spur bis hin zur Verhaftung eines Verdächtigen miterleben, er verknüpft die historische Ebene von 1944 mit der Gegenwart, denn auch Konráð – von dem Fall nicht zuletzt deshalb fasziniert, weil er in dem hinter dem Theater gelegenen Viertel, dem nach eben der Straße „Skuggasund“ benannten „Schattenviertel“ stattgefunden hat, in dem er aufgewachsen ist – geht noch einmal allen Hinweisen nach, befragt erneut die damaligen Zeugen oder deren Nachkommen – in der Hoffnung, so auch entscheidende Hinweise für eine Lösung des aktuellen Mordfalls zu erhalten. Denn dass beide Fälle zusammenhängen, das steht für ihn außer Zweifel.

Arnaldur Indriðason
Im steten Wechsel entfalten nun die historische und die jetzige Erzählebene Stück für Stück zu verschiedenen Zeiten mehr oder weniger die gleichen Informationen; die unterschiedlichen Schlussfolgerungen, welche die Kriminalisten damals und der heutige daraus ziehen, führen allerdings zu einem Ergebnis, das Flóvent und Thorson seinerzeit bei ihrer Aufklärung des Falles wohl nur als Stachel des Zweifels geblieben war…

Daraus erklärt sich schließlich auch das anhaltende Interesse des toten Stefán Þórðarson an dem Fall, denn er, der vor seinem Tod noch versucht hat, endlich der Wahrheit über die tote Rósamunda auf die Spur zu kommen – so viel sei an dieser Stelle verraten – ist kein anderer als der seinerzeitige west-isländische Militärpolizist.

Mit Schattenwege zeigt Arnaldur Indriðason einmal mehr das Können, das ihn bei seinen Lesern so beliebt macht: das authentische Zeichnen von starken Charakteren mit ihren jeweils eigenen Wesensarten und Denkweisen, von gesellschaftlicher Atmosphäre und lokalem Kolorit, ganz gleich ob heute oder in der Vergangenheit. Natürlich kommt auch die Dramaturgie seines Erzählens hinzu, dieser geradezu geruhsame Fluss, in dem er eine Geschichte sich entwickeln lässt. Das ist nicht jedermanns Krimi-Geschmack, aber der meine ist es. Allerdings habe ich hinsichtlich der Dramaturgie auch eine kleine Enttäuschung zu vermelden: die wahren Schuldigen sind mir, um im Krimi-Jargon zu bleiben, eine Spur zu spät in die Geschichte eingeführt – ich hätte gerne etwas früher mit-vermuten dürfen im Spiel der Kriminalisten mit jenen, die begründet unter Verdacht stehen. Dennoch: ich habe Schattenwege gerne gelesen und empfehle den Roman ebenso gerne auch anderen zur Lektüre. Und wer nicht lesen will, kann hören: Das Werk ist parallel zur Buchveröffentlichung auch als Hörbuch erschienen, bei Lübbe Audio, gelesen von Walter Kreye.

Über Wolfgang Schiffer

Literatur (und alles, was ihr nahe ist) ist m. E. eines unserer wichtigsten Nahrungsmittel. Also zehre ich von ihr und versuche, sie zugleich zu nähren: als Autor, als Übersetzer, als Vermittler und nicht zuletzt als Hörer und Leser.
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4 Antworten zu Schattenwege

  1. wolkenbrecher schreibt:

    Das ist sehr schön, wie du alles beschreibst und wie man spürt, dass du die Romane liebst, die du gelesen hast. Ich hab da in dir einen Menschen kennengelernt, der wirklich liebenswürdig ist und die beschriebenen Romane sind es nicht minder. Danke!

  2. wholelottarosie schreibt:

    Whowww…diesen neuen Roman werde ich mir natürlich besorgen. Immerhin habe ich bisher fast alle Bücher von Arnaldur Indridason mit großer Faszination, Begeisterung und teilweiser Atemlosigkeit verschlungen. So viele Dinge sind mir nachhaltig in Erinnerung geblieben – z.B. die Geschichte des Jungen mit der Engelsstimme…..
    LG von Rosie

    • schifferw schreibt:

      Ich mag ihn auch, selbst wenn seine Plots gelegentlich etwas an Plausibilität vermissen lassen… Aber man erfährt dabei halt auch viel über Island! Herzliche Grüße, Wolfgang

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