Eine moderne Übersetzung des berühmten Romantik-Gedichts
Vor einiger Zeit habe ich in meinen „Wortspielen“ einen kleinen Beitrag zu Karel Hynek Mácha geschrieben, dem großen, 1810 in Prag geborenen tschechischen Romantiker, der bereits mit 26 Jahren starb – mit seinem poetischen Epos Máj / Mai der Nachwelt jedoch das wohl eindrucksvollste Gedicht der tschechischen Romantik hinterließ.
Mácha verfasste Gedichte auf Tschechisch und Deutsch; Máj / Mai war in tschechischer Sprache verfasst, erfuhr aber in Deutschland bereits früh einige Übersetzungen. Zitiert habe ich in meinem früheren Beitrag einen Auszug aus der Übersetzung von Alfred Waldau (1837 – 1882), einem Offizier der Österreichischen Armee, der für seine Übersetzungen tschechischer Werke ins Deutsche und der Vermittlung traditioneller tschechischer Kultur bekannt und geschätzt wurde. Seine Übersetzung von Máj / Mai entstand wohl um 1860; veröffentlich wurde sie zusammen mit einer Auswahl weiterer Gedichte von Karel Hynek Mácha 1862. Nachzulesen ist der Auszug unter diesem Link, der zu meinem Beitrag vom 5. November dieses Jahres führt.
In diesem Beitrag schrieb ich auch, dass ich auf eine zeitgenössische Übertragung des Epos um den Räuberhauptmann gestoßen bin, um den Mann, der hingerichtet wird, weil er die Verführung seiner Geliebten gerächt hat, und sich nun mit großer Wortgewalt und in eindrucksvollen Bildern von der Erde verabschiedet.
Erschienen ist diese neue Fassung – sie hat mich inzwischen erreicht – 2012 im österreichischen Verlag Labor, die Übertragung ist von dem jungen tschechisch-österreichischen Autor und Übersetzer Ondřej Cikán, illustriert hat die zweisprachige Edition der tschechische Zeichner und Bühnenbildner Antonín Šilar.
Allein schon zu blättern in diesem sorgfältig edierten und gestalteten Band, ist eine große Freude – Schrifttype, Zeilennummerierung, Lesebändchen, Papierwahl, ein umfassendes Nachwort des Übersetzers zur Bedeutung des Werks, seiner Form als Epos und dessen Versmaßen – das alles nimmt einen sofort ein für dieses Buch.
Und wenn man dann das Werk selbst zu lesen beginnt, in dieser frischen und wunderbarst klangvoll daherkommenden Übertragung, versteht man umso mehr, warum das Werk eine so hohe Wertschätzung erfahren hat und in seinem Reichtum an Bildern so manchen Surrealisten in Tschechien sogar zum Vorbild wurde.
Wer mag, kann vergleichen mit der Fassung von Alfred Waldau (dessen Verdienste zu seiner Zeit ich keineswegs schmälern will…); ich zitiere im Folgenden ebenfalls den Beginn des Epos, also denselben Ausschnitt wie zuvor – hier nun in der Übertragung von Ondřej Cikán.
Es war spät Abend – erster Mai –
Abends der Mai war Liebeszeit.
Das Täubchen rief zur Lieb herbei,
Der Föhrenhain duftete weit.
Von Liebe flüsterte das Moos;
Und blühend log von Schmerz ein Baum,
Die Nachtigall sang ihren Traum,
Die Rose schwieg, sie seufzte bloß.
Im Sträucherschatten still zerronnen
Rauschte der See geheimes Leid,
Das Ufer hielt ihn lang und breit;
Und fremder Welten helle Sonnen,
Sie irrten durch azurne Strähnen,
Loderten dort wie Liebestränen.
Die Welten auch, die höher strebend
In ewger Liebe Zuflucht nahmen;
Bis sie – sich immer höher hebend,
Verloschen still, wie Funken schwebend –
Verirrt, verliebt zusammenkamen.
Der Luna volles Angesicht –
Bleiche Helle, helles Verbleichen
Die Liebste sucht, doch er muss weichen –
Errötete im zarten Licht;
Sie sah sich in den Wassern stehen
Und musste nach sich selbst vergehen.
Fern sah man dunkle Höfe scheinen:
So kamen sie sich nah, ganz nah
Und lagen bald umarmt schon da,
Tief, tiefer, um sich ganz zu einen
Im dunklen Schoß der Dämmerungen.
Auch Bäume halten sich umschlungen. –
Am fernsten liegt der Berge Schatten,
Wo Birke, Kiefer süß ermatten
Zu zweit ganz, und die Wellen rollen
Den Wellen nach. Nichts bleibt der vollen
Liebe jetzt fern – zur Liebeszeit.
Am Ende seines Epos wiederholt Karel Hynek Mácha die ersten drei Zeilen seines Werks, lässt das Täubchen aber in einer letzten Zeile die Liebenden herbeirufen – ein Ruf, dem am 1. Mai eines jeden Jahres immer noch viele Liebespaare folgen: sie spazieren zum Denkmal des Dichters auf dem Petřín, einem bewaldeten Hügel in Prag, um sich hier zu küssen und sich ihrer Liebe zu versichern.

Das Denkmal zu Ehren von Karel Hynek Mácha, geschaffen in den Jahren 1910 bis 1912 von dem Bildhauer Josef Václav Myslbek und dem Architekten Antonín Balšánek © Wolfgang Schiffer