„628 – E8“: Ein Roman? Oder was?

Übers Land © Wolfgang Schiffer

Übers Land © Wolfgang Schiffer

„Hier also das Tagebuch dieser Reise im Automobil durch ein wenig Frankreich, Belgien, Holland, Deutschland und vor allem durch ein wenig von mir selbst.“

Wer das Buch mit dem merkwürdigen Titel „628 – E8“, dessen 1. Kapitel „Die Abfahrt“ mit diesen Sätzen beginnt, aufgeschlagen hat, ahnt wohl recht bald, dass er etwas Besonderes in Händen hält. Und das in mehrerlei Hinsicht.

628  E3Ist es, so fragt der Autor Octave Mirbeau den Leser gleich selbst, ist es wirklich ein Tagebuch? Ist es überhaupt eine Reise?
Und wenn es das womöglich nicht ist, was ist es dann? Pure Fiktion? Also ein Roman?
Wohl auch nicht, denn die Reise hat ja tatsächlich stattgefunden; Mirbeau unternahm sie im Jahr 1905, und das auch durch die genannten Länder, zusammen mit seiner Frau Alice, drei Freunden (die im Buch allerdings nie zu Wort kommen) und einem Chauffeur – denn das Reisevehikel war ein Auto: ein „Charron“ mit dem Kennzeichen 628 – E8. Und dieses Auto hat ihn wohl derart inspiriert, dass er dessen Kennzeichen nicht nur mit dem Titel seines Buches verewigte, er eignet dieses Buch gar in einer längeren, vorangestellten Widmung dessen Konstrukteur Fernand Charron zu.

Dabei war es wohl nicht allein die Geschwindigkeit des Fahrzeugs (immerhin bis zu 55 km/h), die ihn faszinierte und ihn ein Automobil zum eigentlichen Protagonisten eines Werkes machen ließ, sondern ebenso oder vielleicht gar noch mehr die ideelle Dimension, die sich durch die mit ihm beschleunigte Mobilität ergab. „Das Automobil fährt uns nicht nur von der Ebene ins Gebirge, vom Gebirge ans Meer, durch unendliche Formen (…); es führt uns auch durch verborgene Sitten und Gebräuche, durch gerade erst entstehende Ideen, durch die Geschichte, unsere lebendige Geschichte von heute…“

Octave MirbeauAll dies lesen wir denn auch, aus der Perspektive des Jahres 1905, als Beobachtungen, Anekdoten, Rückblicken und Erfindungen, gespickt mit Urteilen und (manch heute noch anzutreffenden) Vorurteilen, mit scharfen Sottisen, Frivolitäten und teils verblüffendem politischem Weitblick. Kurzum: „628 – E8“ ist ein schillerndes Panorama von Texturen und Stilen, die eine eindeutige Genre-Zuordnung nicht zulassen, und zugleich ist es das Panorama der Intellektualität eines anarchisch engagierten Schriftstellers, den wir, so vermute ich (weil es mir selber so erging), vor allem mit seinem Roman „Tagebuch einer Kammerzofe“ in Verbindung bringen, der sowohl von Jean Renoir als auch von Luis Buñuel verfilmt wurde. Dass er seinerzeit mit Theaterstücken wie z. B. „Geschäft ist Geschäft“ einer der meistgespielten französischen Dramatiker im deutschsprachigen Raum war (was ihm u. a. die finanzielle Basis für seine Automobil-Besessenheit gab), dass er als Kunstkritiker großen Anteil am Durchbruch mancher Avantgarde-Künstler seiner Zeit hatte und als politischer Journalist mit scharfen Glossen gegen die bürgerliche Gesellschaft, das kapitalistische Wirtschaftsgefüge, gegen den Kolonialismus und gegen alltägliche soziale Missstände anschrieb, das habe auch ich mir bei meiner jetzigen Beschäftigung mit seinem 1907 im Original erstveröffentlichten Buch wieder erlesen müssen.

Besonders ist auch, dass wir „628 – E8“ erst jetzt in deutschsprachiger Übersetzung erfahren können. Während Mirbeaus Theaterstücke, aber auch die meisten seiner weiteren Romane (z. B. „Der Abbé“, „Der Garten der Qualen“ oder eben „Tagebuch einer Kammerzofe“) relativ bald nach ihrer Originalausgabe ins Deutsche übertragen und publiziert wurden, blieb dies diesem Werk, in dem viele sein Hauptwerk sehen, bis vor wenigen Wochen verwehrt. Die Frage nach dem Warum (sowie einige andere offen gebliebene Fragen) will ich hier nicht beantworten, denn die nun im Weidle Verlag erschienene Übersetzung beglückt uns nicht nur mit annähernd 500 Seiten besten Lesefutters zum Europa der damaligen Zeit und zur Gedankenwelt eines „Anarchisten der Belle Époque“, der Übersetzer Wieland Grommes, der Octave Mirbeau so nennt, hat den Text auch kommentiert und mit einem sehr gut einordnenden Nachwort versehen, das, gestützt auf umfangreiche Quellen zum Buch und zum Autor, jede Neugier stillt.

Abb. aus dem besprochenen Buch

Abb. aus dem besprochenen Buch

Ich freue mich jetzt einfach nur, dass es das Buch gibt – noch dazu mit einigen Abbildungen eines „Charron“ durch den Fotografen Dirk Dahmer. Diese Nobelkarosse aus vergangener Zeit trägt zwar nicht dasselbe Kennzeichen, aber ansonsten ist sie völlig identisch mit dem Helden des Romans? Oder was?

PS: Noch eine Besonderheit: Die Übersetzung, so lese ich am Ende des Buchs, wurde gefördert von der Kunststiftung NRW. Da scheint mir mehr dahinter zu stecken als eine zufällige, angesichts der Komplexität des Werks allerdings gute Tat; vielleicht ist es Ausdruck eines größeren, von Octave Mirbeau bereits seinerzeit geforderten Freundschaftsbeweises zwischen Deutschland und Frankreich. Ich verspreche nichts, gehe dem aber nach. Ein Nachtrag ist also nicht ausgeschlossen…

Über Wolfgang Schiffer

Literatur (und alles, was ihr nahe ist) ist m. E. eines unserer wichtigsten Nahrungsmittel. Also zehre ich von ihr und versuche, sie zugleich zu nähren: als Autor, als Übersetzer, als Vermittler und nicht zuletzt als Hörer und Leser.
Dieser Beitrag wurde unter Übersetzung, Literatur abgelegt und mit , , , , , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.