Ein Streitgespräch zu Linda Vilhjálmsdóttirs Gedichtband FREIHEIT
Soeben habe ich es erst entdeckt: In der allerersten Ausgabe der Zeitschrift für zeitgenössische Lyrik TRANSISTOR, im Frühjahr letzten Jahres, schreibt Felix Schiller in guter Tradition der Rezension als fiktives Gespräch ein solches zwischen Kim Sasabone von den Vengaboys und dem Fernsehshow-Moderator Thomas Gottschalk.
Gegenstand auf den 12 Seiten, die die Auseinandersetzung einnimmt, ist der von Jón Thor Gíslason und mir gemeinsam übersetzte, 2018 im ELIF VERLAG erschienene Gedichtband FREIHEIT der isländischen Lyrikerin Linda Vilhjálmsdóttir und somit nicht nur die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen Politischer Lyrik, sondern was diese denn überhaupt sei …
Daraus resultiert u.a. folgende Dialogpassage, die ich hier (leicht verkürzt) wiedergebe:
Sasabone: Politische Lyrik – da fängt´s ja schon an.
Gottschalk: Was fängt DA an?
Sasabone: Was soll das denn bitte sein: Politische Lyrik? Was meinst Du damit? Das ist doch eine reine Tautologie. Poetisch zu sprechen ist doch sowieso und überhaupt immanent politisch. Ein Sprechen, auf das im Hervorbringen, im Produktionsprozess niemand Einfluss nimmt, ist doch schon Widerstand.
Gottschalk: Mmmhhnaja, ich bin kein Freund dieses These. „Dass Politik nicht über das Gedicht verfügen kann: das ist sein politischer Gehalt.“ Und selbst wenn Poesie per se politisch wäre, wäre sie nicht immer Politische Lyrik.
Sasabone: Und wann sprichst du dann sonst von Politischer Lyrik?
Gottschalk: Ich seh das als Gattungsbegriff, als Untergattung der Poesie, so wie Yogi Sartorius, der sagt, ein Gedicht ist dann ein politisches Gedicht, „wenn es ein politisches Thema hat“, wenn „der Anlass, das Gedicht zu schreiben, ein politischer gewesen ist“, also politische Absicht und politischer Kontext.
Sasabone: Aber gerade Anlass, Absicht, Kontext machen Politische Lyrik doch zu schlechter Dichtung. Wenn das die im Text angelegten Rezeptionsrichtungen sind, wie soll das bitte gut werden? Dann ist der Text nur mehr Levitenlesung, Vorwurf, Missstandsbekundung.
Gottschalk: Liest dir FREIHEIT die Leviten?
Und so weiter, und so weiter … Ein inspirierender Positionsstreit nimmt seinen Lauf – doch ein Urteil, welche der Positionen auf den Gedichtzyklus FREIHEIT eher zutrifft, überlasse ich hier gerne der Lektüre einer jeden Leserin und eines jeden Lesers!
Darüber hinaus: Mit weiteren Anmerkungen zur Lyrik heute von u. a. von Asmus Trautsch und Karla Reimert Montasser und Gedichten selbst wie von Yevgeniy Breyger, Martina Hefter oder Sebastian Unger ist TRANSISTOR¹ eine überaus frische, lesenswerte Literaturzeitschrift. Herausgegeben wird sie von Saskia Warzecha, David Frühaus und Alexander Kappe.
Die Release-Party von TRANSISTOR² fand übrigens vor wenigen Tagen in Berlin statt; die neue Ausgabe enthält Beiträge von Hannes Bajohr, Hannah Bründl, Andreas Bülhoff, Sandra Burkhardt, Caroline Danneil, Karl Wolfgang Flender, Jan Imgrund, Birgit Kreipe, Michael Lentz, Jasmin Meerhoff, Frieda Paris, Kathrin Passing, Jörg Piringer, Philipp Schönthaler, Mathias Traxler und ein Dossier zu Digitaler Lyrik. Da darf man wieder gespannt sein.
Erstaunlich, lieber Wolfgang, wo überall dem Thomas Gott der Schalk im Genicke sitzt …
Dankeschön fürs Präsentieren!
LG vom Lu
Natürlich hat jede Lyrik in irgendeiner Weise politischen Gehalt, wenn man polit. so weit definiert, das es heißt „in irgend einer Weise auf irgendwen wirken“. Aber das ist eine in etwa so sinnvolle Definition wie „Alle Literatur ist Fantasy, weil ja immer die Fantasie im Spiel ist“. Schwer zu verstehen, warum erwachsene Menschen noch immer mit Null-Definitionen hantieren, als sei damit irgend was gewonnen.
Statt dessen hätten sich vll grad die Menschen, denen wichtig ist, dass immer alles „poltisch“ ist mit dem Paradoxon auseindanderzusetzen, dass gewollt oder vll bemüht politische Lyrik nicht nur meist tatsächlich, s.o. „schlechte[] Dichtung“ ist , sondern gar schlechte politische Dichtung. Während der nicht in erster Linie politisch gewollte Text wirken kann, da er eben nicht nur zum Chor predigt, der „unpolitische“ Text also oft der bessere politische Text ist. Aber wiederum: Wenn man um alles in der Welt politisch wirken will (und alles als politisch betrachtet) ist es kaum möglich, den Abstand zu gewinnen, den so ein langfristig wirken(sollen)der Text verlangt.
Danke für diesen Kommentar und den Verweis auf das Paradoxon.
ps: natürlich ist „unpolitische“ wirkende Lyrik auch nicht zu denken als etwas, das jeden Bezug zur Zeitsituation aus sich raus hält, denn die Welt ist der Sprachkunst nunmal unmittelbarer Material als zB der Musik. Ein Gedicht, das aus einer „Mittelmeeridylle“ das gigantische Seegrab nicht raushält, ist einfach nur ein zeit-adäquates Gedicht, wie es die reine Idylle nicht wäre – die wäre reiner Kitsch, wert, vergessen zu sein, noch ehe der letzte Vers ausklingt… Abstand, der Zeit in Sprachkunst überführen kann ist das Entscheidende, die Selbstkontrolle, nicht dem Drang zu Predigt und Anklage nachzugeben. Nicht, dass ich nicht auch immer mal wieder solche Texte schreiben würde, auch der unmittelbare Aufschrei, die künstlerische Selbst- & Gruppenvergewisserung haben ihr Recht. Man sollte sich nur bewusst bleiben, dass man gerade zwar vielleicht eine Notwendige, aber weder die beste, noch die dauerndste Arbeit abliefert.