Der gute Sohn

Der Niederländer Rob van Essen beschattet sich selbst.

Niederlande, Amsterdam © Wolfgang Schiffer

Die ersten Szenen des Romans Der gute Sohn lassen nichts Gutes ahnen. Da rückt an der Kasse im Supermarkt eine nachfolgende Kundin dem Erzähler derart nah auf die Pelle, dass beinahe sein buddhistisches Anti-Aggressionstraining versagt, zu Hause versagt sich der Relax-Sessel, das einzig verbliebene Erbstück seiner kürzlich verstorbenen 100jährigen Mutter, mit lautem Bzzt! Bzzt! seinen Befehlen, und kaum hat er ihn und sich in eine stabile, zum Schlaf einladende Waagerechte gebracht, da ruft zu allem Überfluss Lennox an, ein Kumpel aus der Vergangenheit, den er seit etwa 40 Jahren nicht mehr gesehen hat, und überredet ihn zu einer gemeinsamen Autofahrt ins – zunächst Ungewisse.

Damals vor 40 Jahren arbeiteten Lennox und er für ein Jahr in einem städtischen Archiv; zusammen mit einem gewissen Guido, der während der gemeinsamen Zeit verunfallte und an den Rollstuhl gefesselt blieb, recherchierten und sammelten sie alles erdenklich Mögliche. Danach verloren sie sich aus den Augen, bis Lennox den Erzähler, der sich zwischenzeitlich als Schriftsteller versucht, seinen Lebensunterhalt jedoch eher mit Kellnerei verdient hat, in ein geheimnisvolles Kloster einführt, einen sogenannten „Dienst“, der unter der Leitung des seinerzeit verunglückten Guido (der in seinem Rollstuhl (Bzzt! Bzzt!) hier allgegenwärtig zu sein scheint) mehr als undurchsichtigen Dingen nachgeht. Die Aufgabe des Erzählers jedenfalls ist es, einem gewissen de Meester, den er ebenfalls noch aus der Zeit im Archiv kennt und der heute unter Bonzo firmiert, den Teil einer neuen Identität zu verpassen: seine Jugend. Warum eine neue Identität vonnöten ist, bleibt weitgehend im Dunkeln: Er erfährt nur, dass de Meester alias Bonzo mit der Entführung des Bierkönigs Batavier oder deren Aufklärung zu tun gehabt haben soll, bei der das Lösegeld, ein wahrer Schatz an Diamanten, nach wie vor unauffindbar ist.

Mag all dies auch noch so lange her sein, auf der mehrere Tage andauernden Autofahrt mit Lennox durch die Monotonie einer nahen Zukunft, in der selbstfahrende Autos, im Schlepptau der Schülerinnen krabbelnde Schulranzen und Roboter als allwissende Empfangschefs der abendlichen Hotels dem Leser einen leichten Hauch von Science-Fiction vermitteln, erinnert sich der Erzähler nicht nur sehr genau an diese Begebenheiten, auch seine Erfolge als Schriftsteller von „plotlosen Thrillern“, die ihm das Ende der Literatur, wie man sie bisher kennt, bedeuten, und als zeitweiliger Drehbuchautor der Fernsehserie EFSF (ECHTE FREUNDE SCHLECHTE FREUNDE) stehen ihm noch einmal vor Augen, Erfolge, denen nun durch eine soeben vom Verlag bekräftigte Ablehnung seines jüngsten Buchmanuskripts allerdings das endgültige Ende droht.

Und er erinnert sich der Frauen, die er geliebt hat, und vor allem erinnert er sich seiner Mutter. Sie hat er ebenso wie den Vater wegen ihrer Spießigkeit und ihres Gottesglaubens zwar verachtet, aber dennoch 20 Jahre lang regelmäßig einmal in der Woche im Altersheim besucht und ist ihr, die mehr und mehr in Vergesslichkeit versank, stets „ein guter Sohn“ geblieben.

Vier Tage lang dauert die Reise mit Lennox, Tage, in denen der Erzähler nicht nur allmählich mehr über den wahren Zweck der Unternehmung erfährt (natürlich geht es erneut um de Meester alias Bonzo), sondern auch mehr und mehr zu der Überzeugung kommt, dass er nach der Zeit im Kloster sein ganzes weiteres Leben lang in den Fängen des „Dienstes“ geblieben ist, dass dieser ihn permanent beschattet und alles in seinem Leben gesteuert hat, seine Erfolge ebenso wie seinen jetzigen Misserfolg.

Am fünften Tag der Reise setzt Lennox den Erzähler kurzerhand in ein selbstfahrendes Auto, das er zuvor auf das letztendliche Ziel hin programmiert hat, und lässt ihn alleine weiter reisen. Worüber sich während dieser letzten Etappe der Erzähler und das äußerst intelligente und emphatische Auto alles unterhalten und was so alles geschieht und worin das Ziel am Ende besteht, das sei hier nicht verraten; nur so viel: Die Schilderung dieser letzten Etappe ist ein Glanzstück des Romans, in dem bei allem scheinbar mäandernden, der Idee eines plotlosen Thrillers nicht unähnlichen Verlauf die verschiedenen Themen wie z. B. die Überlegungen zur Mutter-Sohn-Beziehung und anderen Liebesdingen, zum Älterwerden und den damit einhergehenden sexuellen Phantasien, zur Literatur und deren Wirkmächtigkeit ebenso wie die literarischen Genres, die in dem Roman (wenn auch einige eher andeutungsweise) bedient werden (Agentenstory, Science-Fiction, Dystopie, Road Novel) zielgerichtet zusammenfließen zu einem stimmigen, gerade auch in der Übersetzung von Ulrich Faure mit lässiger Virtuosität erzählten Ganzen.

Dabei ist es einerlei, ob der Erzähler die Gegenwartsszenen, die Fahrt mit Lennox und in dem selbstfahrenden Auto sowie das Ende Romans, tatsächlich erlebt oder ob er sie, im Relax-Sessel der Mutter liegend, erträumt – entscheidend ist, dass sie zum Transportband der Biografie eines sich selbstvergewissernden Ich-Erzählers werden, die auch den Leser immer wieder zu einem Sichspiegeln, zu einer Innenschau anregt und bei der man getrost auch einiges, quasi mittels literarischer Selbstbeschattung, an Autobiografischem des Autors Rob van Essen vermuten darf.

In den Niederlanden wurde das 2018 erschienene Original De goode zoon des 1963 geborenen Rob van Essen zum Bestseller, nicht zuletzt dank des ihm zuteil gewordenen Literaturpreises Libris, der wichtigsten literarischen Auszeichnung des Landes; seine hierzulande im homunculus Verlag erschienene Übertragung Der gute Sohn ist hingegen bislang eher unterschiedlich angenommen worden. So konnte eine namhafte Kritikerin dem Roman im DLF wenig abgewinnen und hält ihn eher für Blendwerk, während sich nicht weniger namhafte, selbst schreibende Damen im Literarischen Quartett des ZDF recht begeistert zeigten. Welche Einschätzung auch immer vielleicht einmal die Oberhand gewinnen mag, mir war Der gute Sohn in seiner Mischung aus geradezu anarchistisch anmutenden Fantasie-Feuern und seinen stillen, von berührender Intimität geprägten Passagen ein großes Leseerlebnis, vor dem ich, trüge ich einen, meinen Hut ziehen würde. Ohne diesen bleibt mir nur ein:

Goed gedaan, beste Rob van Essen! Gut gemacht, lieber Rob van Essen!

Zum Abschluss: Rob van Essen liest aus seinem Roman Der gute Sohn.

Über Wolfgang Schiffer

Literatur (und alles, was ihr nahe ist) ist m. E. eines unserer wichtigsten Nahrungsmittel. Also zehre ich von ihr und versuche, sie zugleich zu nähren: als Autor, als Übersetzer, als Vermittler und nicht zuletzt als Hörer und Leser.
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3 Antworten zu Der gute Sohn

  1. gsohn schreibt:

    Hat dies auf http://www.ne-na.me rebloggt und kommentierte:

    Goed gedaan, beste Rob van Essen! Gut gemacht, lieber Rob van Essen!

  2. Christian E. schreibt:

    Dass er Insa Wilke nicht gefallen hat, war für mich erst recht Ansporn, ihn zu erwerben. Kommt dran, wenn ich Thorsten Nagelschmidts „Arbeit“ (sehr zu empfehlen übrigens!) fertig hab.

  3. Manfred Voita schreibt:

    Danke für den Tipp!

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