„Es war spät Abend – erster Mai …“

Karel Hynek Máchas romantisches Liebesepos in überarbeiteter Neuübersetzung

Blick vom Petřín über Prag

Dieser Beitrag kommt zu spät oder zu früh – ganz wie man es sehen möchte. Er hätte bereits zum 1. Mai erscheinen oder noch „auf Eis liegen“ sollen, bis zum 10. November dieses Jahres, dem Tag, an dem sich der Geburtstag  d e s  tschechischen Dichters  der Romantik zum 210ten Mal jährt.

Doch wie auch immer, dass ich hier überhaupt erneut auf diesen Großen der tschechischen Literatur eingehe, hat allein einen Grund: Der tschechisch-österreichische Autor, Übersetzer und Verleger Ondrĕj Cikán hat seine 2012 im Verlag Labor erschienene Übersetzung von Máj, Karel Hynek Máchas Hauptwerk, noch einmal überarbeitet und mit einem umfangreichen, wissenschaftlich fundierten Nachwort, u. a. zu den literarischen Einflüssen, den verschiedenen deutschsprachigen Fassungen sowie zur internationalen Rezeptionsgeschichte des Werks versehen. Erschienen ist diese Neufassung nun vor wenigen Wochen im Kĕtos Verlag, Wien und Prag, ein sorgfältig ediertes, zweisprachiges Werk, dessen Originaltext der neuesten wissenschaftlichen Edition folgt und das durch ebenso einfache wie die Vorstellung anregende Illustrationen des tschechischen Zeichners und Bühnenbildners Antonín Šilar eine besondere Anmutung erhält. 

Es war spät Abend – erster Mai –
Abends der Mai war Liebeszeit.
Das Täubchen rief zur Lieb herbei,
Der Föhrenhain duftete weit.
Von Liebe flüsterte das Moos;
Und blühend log von Schmerz ein Baum,
Die Nachtigall sang ihren Traum,
Die Rose schwieg, sie seufzte bloß.

So beginnt Máj / Mai, das lyrische Drama über einen zum Tode Verurteilten, dessen Vergehen darin besteht, die Verführung seiner Liebsten gerächt zu haben, und viele Tschechinnen und Tschechen wissen diese Zeilen (und / oder andere aus dem Werk) auch heute noch auswendig zu zitieren. Diese Wertschätzung des Epos war jedoch nicht immer gegeben; es hat ein paar Jahre gedauert, bis der 1810 in Prag geborene Dichter Karel Hynek Mácha bei seinen Landsleuten beliebt wurde, sein Hauptwerk musste er 1836 sogar noch im Eigenverlag publizieren, nur wenige Monate vor seinem frühen Tod am 5. November (einige Quellen nennen auch den 6. November) desselben Jahres.

Erst ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sah man in ihm den wichtigsten Vertreter der tschechischen Romantik – eine Wertschätzung, die seither ungebrochen anhält, ja, vielleicht ist Máj / Mai sogar das bekannteste Gedicht in Tschechien überhaupt.  Besonders unter Künstlern löste es einen wahren Mácha-Kult aus – und auch heute noch spazieren Jahr für Jahr an diesem 1. Mai die Liebespaare (ich nehme mich und meine Liebste hier gar nicht aus) auf den Petřín, den bewaldeten Hügel im westlichen Teil von Tschechiens Hauptstadt Prag, um sich hier vor dem Denkmal des Dichters zu küssen und sich ihrer Liebe zu versichern.

Das Denkmal zu Ehren von Karel Hynek Mácha, geschaffen in den Jahren 1910 bis 1912 von dem Bildhauer Josef Václav Myslbek und dem Architekten Antonín Balšánek. Fotos © Wolfgang Schiffer

Die beginnende Wertschätzung in Tschechien brachte im 19. Jahrhundert bald auch erste Übersetzungen ins Deutsche mit sich, u. a. von Siegfried Kapper, Alfred Waldau und Karl Müller. Besonders jene von Alfred Waldau (1837 – 1882), einem Offizier der Österreichischen Armee, der für seine Übersetzungen tschechischer Werke und der Vermittlung traditioneller tschechischer Kultur bekannt und geschätzt war, lässt bereits die Bildmächtigkeit und Wortgewalt des jungen Dichters Mácha erkennen – die aktuelle Neufassung von Ondrĕj Cikán jedoch befreit das Werk um den sich von der Erde verabschiedenden Mann vom Zwang des in der Übersetzungstradition der damaligen Zeit obligatorischen Versmaßes und gibt dem Epos – dem Original adäquat – nun eine frische, wunderbarst klangvolle lyrische Gestalt, bei deren Lektüre man umso mehr versteht, warum das Werk im Original eine so hohe Wertschätzung erfahren hat und in seinem Reichtum an Sprache gewordenen Emotionen und Bildern so manchen anderen Künstlern in Tschechien sogar zum Vorbild wurde.

 Tiefe Stille. – Die Mauer sät
Tropfen auf Tropfen nieder.
Des hohlen Fallens Trockenheit,
Die in der feuchten Zelle steht,
Mißt die nächtliche Zeit,
Klingt – vergeht –­ klingt und vergeht –
Klingt – vergeht – klingt und vergeht dann wieder.

Zum Schluss: Auch wenn das Epos nach Prag und auf den Petřín lockt (eine von Deutschland aus zurzeit leider nicht zu realisierende Verlockung) und auch der 1. Mai längst vorüber ist, Prag bleibt auch für die Zukunft immer eine Reise wert – und dieses Epos das Lesen (und das geht bekanntlich immer!)

 

 

 

Über Wolfgang Schiffer

Literatur (und alles, was ihr nahe ist) ist m. E. eines unserer wichtigsten Nahrungsmittel. Also zehre ich von ihr und versuche, sie zugleich zu nähren: als Autor, als Übersetzer, als Vermittler und nicht zuletzt als Hörer und Leser.
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2 Antworten zu „Es war spät Abend – erster Mai …“

  1. Sigrún Valbergsdóttir schreibt:

    Oh, wie schön, lieber Wolfgang. Danke schön … und wie man sich nach Prag sehnt! Das wird mal werden.

    • Wolfgang Schiffer schreibt:

      Oh ja, das wird! Und wenn wir dafür 100 Jahre alt werden müssen! Aber dann, zum 1. Mai … Seid umarmt, Ihr Zwei!

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