Es gilt mit drei Sätzen aufzutakten: Gerd-Peter Eigner ist einer der großen und verkannten Autoren einer langsam verlöschenden Zeit: des ausgegangenen 20. Jahrhunderts, darin auch die Vertreibung aus den ehemaligen Ostgebieten des ehemaligen Reichs eine zentrale Rolle spielt. Freilich nicht revanchistisch-revisionistisch, es ist in Eigners Buch „Der blaue Koffer“ dieses Vertriebensein und das Neuankommen, das […]
So, wie der Ljóðbréf, der Poesiebrief, den die Schriftsteller Ragnar Helgi Ólafsson und Dagur Hjartarson zwei bis drei Mal im Jahr herausgeben und die Leserschaft in Island somit beständig mit neuen, bis dahin unveröffentlichten Gedichten ihrer schreibenden Landsfrauen und Landsmänner in Berührung bringen, so ist es das Verdienst der Online-Literaturzeitschrift Signaturen-Magazinhierzulande, dass Leserinnen und Leser in schöner Regelmäßigkeit zunehmend zumindest beispielhaft Gedichte von isländischen Lyrikerinnen und Lyrikern zur Kenntnis nehmen können.
Dass wir, das Übersetzer-Duo Gíslason/Schiffer, das solche Gedichte dankenswerterweise für die Reihe Wortlaut Islandder Online-Zeitschrift übertragen darf, uns hierbei nicht nur Neuerscheinungen in Buchform, sondern eben auch jener Poesiebriefe als Quelle bedienen (natürlich stets mit Zustimmung der Autorinnen und Autoren, zumal eine Veröffentlichung im Signaturen-Magazin für alle Beteiligten eine honorarfreie „Angelegenheit“ ist …), das ist mehr als naheliegend.
So entstammt auch der aktuelle Beitrag in Wortlaut Island, der zwei Gedichte von Nína Hjördís Þorkelsdóttir zeigt, aus einem der Poesiebriefe, und zwar dem vorletzten, der Nr. 5.
Eins der beiden Gedichte sei nun auch hier veröffentlicht, das zweite und viele Gedichte isländischer Provenienz mehr finden sich mit einem Klick auf Wortlaut Island.
APHASIE
Die Immobilie am Seljavegur 10 ist mein Besitz,
dennoch fühle ich mich besitzlos,
wenn du meine Gesichtszüge löschst,
aus mir eine Leinwand machst,
um all die Filme darauf zu werfen,
die mit dir zu sehen ich niemals Lust verspürte
ich habe dir einmal ein Schneckenhaus geschenkt,
du aber sagtest, dass Muscheln besser seien,
offener,
sie würden die Substanz nicht verbergen
ich glaube, Besitz
ist eins von diesen künstlichen Wörtern,
die sich in menschlicher Gesellschaft unwohl fühlen
als du es über mich benutzt hast,
habe ich es aus dem Wörterbuch herausgeschnitten,
es von der Handfläche gepustet,
mir etwas gewünscht
Nína Hjördís Þorkelsdóttir, geb. 1989 in Reykjavík, studierte Querflöte und machte 2010 ihren Abschluss an der Musikfakultät der Kunsthochschule Islands. Im Anschluss studierte sie an der Universität Islands praktisches Lektorat und Publizieren, Jura und Anthropologie. Während ihres Studiums arbeitete sie unter anderem als Musiklehrerin und Journalistin. Im Jahr 2021 schloss sie ihr Master-Studium in Sozialrechtlicher Forschung an der Universität Oxford ab. Im selben Jahr erhielt sie für ihren ersten Gedichtband, Lofttæmi / Vakuum, erschienen im Verlag Benedikt, ein Stipendium des Zentrums für isländische Literatur. Sie lebt und arbeitet in ihrer Heimatstadt Reykjavík.
Sunna Dís Másdóttir gewinnt den Jón-úr-Vör-Poesiestab
Þorpið / Das Dorf – der bekannteste Gedicht-Zyklus von Jón úr Vör (vergriffen)
Die in Island äußerst angesehene Auszeichnung mit dem Ljóðstafur Jóns úr Vör / Der Jón-úr-Vör-Poesiestabist Ergebnis eines alljährlichen Lyrikwettbewerbs, der seit dem Jahr 2001 in Kópavogur, der im Südwesten Islands gelegenen zweitgrößten Stadt des Landes, stattfindet, in Erinnerung an den einst dort lebenden und wirkenden Dichter und ersten Stadt-Bibliothekar Jón úr Vör.
Zu dem ihm zu Ehren stattfindenden Wettbewerb kann ein jeder unter einem Pseudonym ein Originalgedicht in isländischer Sprache einreichen. Nach einer Vorauswahl durch eine Jury treten so erfahrene Dichterinnen und Dichter und jüngere, unbekannte gleichberechtigt in einem Lesewettbewerb gegeneinander an. Der Preis besteht aus einer Geldprämie, vor allem aber erhält die preisgekrönte Dichterin, der preisgekrönte Dichter einen silberverzierten Spazierstock, der Jón úr Vör gehörte, – zur Aufbewahrung für ein Jahr. Am Stab ist eine Plakette mit dem Namen des jeweiligen Preisträgers, der jeweiligen Preisträgerin und dem Jahr der Verleihung angebracht. Verliehen wird die Auszeichnung stets am 21. Januar im Rahmen einer Feier zum Geburtstag des Dichters Jón úr Vör.
Geboren wurde Jón úr Vör an diesem Datum 1917 in Patreksfjörður im Nordwesten Islands, er arbeitete u. a. als Buchhändler, Redakteur und eben als Bibliothekar, vor allem jedoch war er Lyriker und trug insbesondere mit seinem Gedichtband Þorpið / Das Dorf(1946) zu einer Modernisierung der isländischen Poesie bei. Er starb am 4. März 2000.
Jón úr Vör
Später, wenn du mit dem Sterben fertig bist
Später, wenn du mit dem Sterben fertig bist, nehme ich dich von hier mit, wickle dich in die
dunkelrote Decke, unter der du dich versteckst, decke dich zu mit nepalesischer Yakwolle und stecke deine Zähne ein.
Vom Schwamm tropft das Wasser auf den Nachttisch. Er ist rosa wie Zahnfleisch auf seinem weißen Stiel, und du schließt den Kiefer um ihn wie ein Säugling an der Brust seiner Mutter, sobald er deine Lippen streift. Der erste Reflex ist der letzte, der vergeht.
Später, wenn du mit dem Sterben fertig bist, gehen wir in den Zirkus und essen Zuckerwatte, die am Gaumen haftet, am Zahnfleisch klebt, gesponnener Zucker auf einem Stab aus Papier, er zergeht auf der Zunge wie die Zeit vergeht, und ich reiche dir deine Zähne und sehe, dass deine Hände wieder fliegen können.
Á eftir þegar þú ert búin að deyja
Á eftir þegar þú ert búin að deyja ætla ég að taka þig með mér héðan, sveipa um þig dimmrauða teppinu sem þú felur þig undir, hylja þig nepalskri jakuxaull og stinga
tönnunum þínum í vasann.
Vatnið drýpur úr svampinum á náttborðinu. Hann er tannholdsbleikur á hvítum pinna og þú læsir kjálkunum um hann eins og ungbarn um móðurbrjóst þegar hann strýkst við varir þínar. Fyrsta viðbragðið er það síðasta sem hverfur.
Á eftir þegar þú ert búin að deyja förum við í sirkus og borðum kandíflos sem
límist í góminn klístrast við tannholdið spunninn sykur á pappírsvafningi, hann leysist
upp á tungunni eins og tíminn og ég rétti þér tennurnar og sé hendur þínar verða
fleygar á ný.
Für das hier zitierte Gedicht wurde am 21. Januar dieses Jahres die isländische Lyrikerin Sunna Dís Másdóttir mit dem Ljóðstafur Jóns úr Vör, dem Jón-úr-Vör-Poesiestab ausgezeichnet.
Die Jury begründete die Wahl ihres Gedichts zum Siegesgedicht u.a. wie folgt: In einem außergewöhnlich gelungenen Prosagedicht wird ein sehr feines und bewegendes Bild tiefer Intimität in selten im Rampenlicht stehenden Situationen gezeichnet. Der Ton wird schon im Titel des Gedichts gesetzt. Er bricht traditionelle Sprache auf und schafft so eine neue und unerwartete Perspektive, ein neues Verständnis von Tod (…) „/ Später, wenn du mit dem Sterben fertig bist“ zeigt auf wundersame, innovative und einprägsame Weise, wie ein geliebter Mensch nach dem Tod im Leben, in den Herzen und sogar in der realen Vorstellung der Überlebenden weiterlebt. Der fließende Rhythmus und die Bildsprache des Gedichts verleiten den Leser dazu, immer wieder zu ihm zurückzukehren und es mehrmals zu lesen, während die Zeit, wie es im Gedicht heißt, „auf der Zunge zergeht“.
Das Übersetzer-Duo Gíslason/Schiffer gratuliert der Autorin aufs Herzlichste und fühlt sich geehrt, hier – wie zuvor in der Reihe Wortlaut Island in der Online-Literaturzeitschrift Signaturen-Magazin – mit ihrer Zustimmung sowohl das Originalgedicht als auch seine Übertragung ins Deutsche veröffentlichen zu können.
Sunna Dís Másdóttir, geboren 1983, lebt als Schriftstellerin, Literaturkritikerin und Dozentin für kreatives Schreiben in Reykjavík. Sie ist ausgebildet in Englischer Sprache und Literatur, Kulturmanagement und Kreativem Schreiben, das sie mit einem Master an der Universität von Island abschloss. Sie ist eine der sechs Dichterinnen, die das Poesie-Kollektiv Svikaskáld / Betrügerische Dichterinnenbilden und veröffentlichte in deren gemeinsamen Gedichtbänden (Ég er ekki að rétta upp hönd / Ich hebe nicht die Hand, 2017, Ég er fagnaðarsöngur / Ich bin ein Freudengesang, 2018 und Nú sker ég netin mín / Nun zerschneide ich meine Netze, 2019) sowie auf der Literaturplattform Starafugl. Ihre Artikel wurden in isländischen Zeitungen und Kulturzeitschriften wie Tímarit Máls og menningar und Börn og menning veröffentlicht. 2022 erschien ihr Gedichtband Plómur / Pflaumen.
Auch wenn es bislang nur zwei Gedichte sind, die wir, das Übersetzer-Duo Gíslason/Schiffer, bislang von der Gesangslehrerin und Kunstpädagogin Ragnheiður Lárusdóttir übersetzt haben und die nun in der Online-Literaturzeitschrift Signaturen-Magazin zu lesen sind, die Rückmeldungen darauf in den sozialen Netzwerken sind äußerst erfreulich, sowohl die Anzahl als auch die Anmerkungen zu Machart und Inhalt betreffend.
Bei den Gedichten handelt es sich in Original quasi um dem im Tunglið Forlag, dem Mondverlag, erscheinenden Poesiebrief Nr. 5 überlassenen Vorabdrucken aus dem Ende letzten Jahres erschienenen Gedichtband KONA/SPENDÝR / FRAU/SÄUGETIER. Ich habe diesen Band von den isländischen Kollegen sofort nach der Lektüre erbeten und hoffe, ihn in Kürze komplett lesen zu können. Und dann womöglich auch mehr daraus zu übersetzen.
Ein Gedicht will ich aber hier jetzt schon mal zitieren; die Leserinnen und Leser wissen inzwischen zweifellos, dass sowohl der zweite Text der Autorin als auch eine Vielzahl weiterer Gedichte aus Island im Signaturen-Magazin in der Reihe Wortlaut Islandzu entdecken und zu lesen sind.
EIN SÄUGETIER
Die Frau dehnt sich aus und zieht sich zusammen
dehnt sich aus und zieht sich zusammen
dehnt sich aus und zieht sich zusammen
auf diese Weise bekommt sie drei Kinder.
Während der Schwangerschaft muss sie sich mit vielen Ärzten treffen
die sie innen und außen untersuchen und wenig mit ihr reden.
Ihr kommt der Gedanke, ob es für sie besser wäre
zu muhen, um mit ihnen in Kontakt zu treten.
Ihre Brüste dehnen sich aus und ziehen sich zusammen
sie gibt Milch und noch mehr Milch, denn sie ist ja ein Säugetier.
Es zieht und zerrt sie hin und her, sie wird größer und kleiner
aber sie darf nicht zunehmen, dann wird sie zu hässlich
und keiner will mit ihr leben.
Sie isst weniger und geht ins Fitnessstudio
kocht Leckerbissen und gibt allen zu essen außer sich selbst.
Ihr Körper hat vor und nach der Geburt gleich auszusehen.
MUHHH
Ragnheiður Lárusdóttir, aufgewachsen auf dem Land am Fjord Önundarfjörður, ist Mutter von drei erwachsenen Kindern und schreibt laut Selbstaussage Gedichte, seit sie schreiben gelernt hat. 2020 gewann sie den Tómas-Guðmundsson-Literaturpreis für das Manuskript ihres Buches 1900 og eitthvað / 1900 und irgendwas, ein Jahr später erschien Glerflísakliður / Glassplitterklirren. Zuletzt wurde ihr Gedichtband KONA/SPENDÝR / FRAU/SÄUGETIER veröffentlicht, die übersetzten Gedichte sind Vorveröffentlichungen aus diesem Buch. Ragnheiður Lárusdóttir ist Gesangslehrerin und hate einen Master-Abschluss in Kunstpädagogik; sie lebt in Reykjavík.
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In diesem Jahr verstecke ich montags ein anregendes oder Gute-Laune-verschenkendes Wort, mache ein Foto davon und teile es hier. An anderen Tagen sammle ich einen Satz, der mir irgendwo begegnet, und baue diesen Satz oder ein Wort daraus am nächsten Tag in ein Gedicht ein. An den Wochenenden erstelle ich Schnipselgedichte und teile sie hier.