Monolog des russischen Soldaten Agafonov
Einmal mehr wendet sich der in Moskau lebende Germanist und Lyriker Vladimir Koljazin mit einem Gedicht gegen den brutalen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, und auch wenn er den Namen nicht explizit nennt, jeder Leser, jede Leserin dürfte sofort wissen, wen er in der Figur des „Unsichtbaren“ direkt anspricht.
Gearbeitet habe ich die deutsche Fassung des Textes auf der Basis einer Interlinearversion des Autors selbst; erstveröffentlicht wurde sie vor wenigen Tagen in der der Online-Literaturzeitschrift Signaturen-Magazin in der Reihe Masken=Tage 2.0.
Ich stapfe über die Leichen der Morgendämmerung Gefallen heute und gestern und in der Zwischenzeit Und ich denke wieso gehe ich als ob ich noch am Leben wär Als ob es so sein sollte und ich ewig bin Unsere zehn Männer sind tot ich dachte es wären nur zehn Und plötzlich tut sich ein Bild auf wie dem Ivan Shichkin die Bären im Wald Ich sehe dass ein ganzer Hain voll Toter mir der Nachbar ist ♪ Over the dead here and there tam tam I walk like a hippopotamus tam tam ♪ Ohne es zu merken trete ich auf die Leben von Gestern Sie liegen wie vom Himmel gefallen in einer nicht zu umgehenden Reihe Ohne Arme, einer, ohne Beine, vier, zwei ohne Kopf Aber mit militärischen Dokumenten Erkennungsmarken mit persönlicher Zahl Ein Blitzlichtgewitter der Militärfotografen schon sind sie ohne Gesicht Gestern warst du ein Mensch heute eine Nummer Ganz frisch und ahnungslos. Wo nur sind sie gelandet? ♪ I'm an old-timer, I know where to hide when the whistle blows ♪ ♪ And the lieutenant's driving, 'cause we're ordered forward ♪ Ich will nach Hause ich bin es leid über Leichen zu gehen Die Hälfte der Nacht über meine Katsapi, die andere Hälfte über die Khokholi* Hey, du da oben, komm her Ich bin ein Nilpferd Geh du zur Armee und stampfe mit den Füßen aus den Hirnen das Blut Als ob es so sein sollte und ich ewig bin Morgen wirst du ein ewiger Bräutigam sein und ich werde gehen Und mich verstecken hinter dem Denkmal des Unbekannten Soldaten Ich habe einen Eid auf das Vaterland geschworen nicht auf den Unsichtbaren da oben Da da ich stapfe wie ein Nilpferd über Leichen Von ihm schon lange dem Spam dem Abfall überlassen Der Soldat Agafonov ist heute noch ein Mensch Doch dir da oben erweise ich nicht die Ehre * Katsap ist in der Ukraine eine erniedriginde Bezeichnung für Russen. Khokhol ist in Russland eine erniedriginde Bezeichnung für Ukrainer.
Vladimir Koljazin, geb. 1945 nahe Neshin in der Ukraine, seit dem Armeedienst 1968 in Moskau lebend, ist ein russischer Theaterhistoriker, Germanist, Übersetzer und Lyriker. Er absolvierte 1972 das Staatliche Institut für Theaterkunst, später und bis heute arbeitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter (Dr.h.c.) des Staatlichen Instituts für Kunstwissenschaft. Er übersetzte u.a. Arthur Schnitzler, Martin Sperr, R.W. Fassbinder, Peter Handke, Botho Strauß, Heiner Müller und Elfriede Jelinek ins Russische. Von ihm erschienen in Russland u.a.: » Monografien über deutsch-russische Theaterbeziehungen« (1998, 2. erw. Auflage 2013); »Mysterium und Karneval« (2002); »Peter Stein: Schicksal eines Theaters« (2012), Hrsg. und Co-Autor »Erwin Piscator« (2022). Poetische Lesungen in Moskau, Berlin, Wien. Vladimir Koljazin lebt in Moskau.