Der neueste Krimi des isländischen Großmeisters in Sachen Verbrechen der Vergangenheit

Zwar bezeichnet der Lübbe Verlag, der in guter Tradition der bisherigen Veröffentlichungen des Werks von Arnaldur Indriðason auch den neuen Roman des Autors in Übersetzung verlegt hat, diesen auf dem Klappentext des Umschlags als in sich abgeschlossene(r) vierte(r) Band in der Kommissar-Konráð-Reihe, doch der Leser dieser Romane des wohl bekanntesten isländischen Kriminalschriftstellers weiß es inzwischen besser: Wirklich abgeschlossen sind die Romane dieser Reihe bislang nie.
Wie seine Vorgänger Verborgen im Gletscher, Das Mädchen an der Brücke oder zuletzt Tiefe Schluchten, in dem es um die Aufklärung einer Jahre zurückliegenden Vergewaltigung und deren mörderische Folgen geht, so löst Konráð, der ehemalige Leiter der Mordkommission in Reykjavík, zwar auch in der Wand des Schweigens einen abermals bereits vor Jahrzehnten begangenen Mord, jedoch ist auch dieser Fall durchsetzt mit der fortwährenden Suche nach dem Täter, der für die Ermordung seines Vaters verantwortlich ist, eines bösartigen Ganoven, der noch zu Konráðs Jugendzeit unter bislang ungeklärten Umständen vor den Räucheröfen des Schlachthofs im Reykjavíker Schattenviertel erstochen wurde.
Der aktuelle Fall: In einem Steinhaus in Reykjavík stürzt eine Kellerwand ein und gibt eine Leiche frei, die dort wohl bereits seit vielen Jahren eingemauert war. Damals wohnten Stan und Elísa mit ihrer Tochter Lóla in dem Haus, im Keller arbeiteten drei Burschen, die Stan zu einem kleinen Umbau angeheuert hatte. Auf Drängen seiner Freundin Eygló, der Tochter eines seinerzeitigen Kumpans von Konráðs Vater, der kurz nach dessen Ermordung ebenfalls unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen war, versucht der Ex-Kommissar mehr über den Fall in Erfahrung zu bringen, doch seine ehemaligen Kollegen bei der Polizei schweigen sich unter Hinweis auf zu viele undichte Stellen im Kommissariat ihm gegenüber aus. Und Marta, seine frühere Mitarbeiterin und jetzige Nachfolgerin, ist zu seiner großen Verwunderung für ihn überhaupt nicht zu sprechen.
Wer Konráð kennt, weiß, dass ihn solche Ausgangslagen erst recht anspornen, sodass es bald erste Vermutungen, wenn nicht schon Erkenntnisse gibt, die ihn an einen tödlichen Mix aus häuslicher Gewalt, Kindesmissbrauch, Pornografie und Erpressung denken lassen.
Zum Fall der Ermordung seines Vaters: Hier tun sich neue Spuren auf, die auf eine Verbindung zu Freimaurern hinweisen, doch auch auf einen möglichen Zusammenhang mit dem jetzt entdeckten Verbrechen, der Leiche hinter der Kellerwand und den damals im Umfeld involvierten Personen. Bei weiteren Nachforschungen jedoch, vor allem in einem vom ihm gesuchten Gespräch mit dem seinerzeitigen Ermittler in dem Mord an seinem Vater, verwickelt sich Konráð derart in Widersprüche, dass er selbst in den Fokus polizeilicher Ermittlungen gerät. Bald ist offensichtlich, dass er damals, beinah noch ein Kind, über die Ereignisse am Tag der Ermordung gelogen hat. Doch es entsteht auch der Eindruck, dass er auch heute nicht die Wahrheit sagt. Wen will er schützen? Seine Mutter? Sich selbst? Schon an diesem Verhalten zeigt sich deutlicher denn je, dass der ehemalige Kommissar ein gebrochener, durchaus nicht nur sympathischer Charakter ist.
Einmal mehr gelingt es Arnaldur Indriðason in seinem neuen Krimi, die verschiedenen, hier nur angedeuteten Handlungs- und Erzählstränge in einem kontinuierlichen Wechsel von Szenen aus der Vergangenheit und der Gegenwart zu verknüpfen und voranzutreiben. Wer hier meine bisherigen Rezensionen zu seinen Romanen der Konráð-Reihe gelesen hat, der weiß, wie sehr ich dieses allmähliche Aufblättern seiner stets komplexen Geschichten schätze, doch kann ich nicht umhin, diesmal auch einen leichten Unmut zu äußern: Die Verweise auf die früheren Fälle, insbesondere auf den im Roman Das Mädchen an der Brücke, zu dem sich der jetzige in Teilen wie eine Fortsetzung liest, sind mir etwas zu umfangreich, als dass ich den Klappentext, der ja von einem in sich abgeschlossenen Band spricht, bestätigen möchte. Und das gilt natürlich erst recht für die Ermittlungen zum gewaltsamen Tod des eigenen Vaters: Hier fühle ich mich geradezu schon hingehalten vom abermaligen open end, doch ist dies vielleicht auch nur einer mir nachgesagten Ungeduld geschuldet. Andere Leserinnen und Leser werden sich zweifellos bereits auf die Fortsetzung freuen.
Gefreut habe ich mich, das sei ausdrücklich erwähnt, über eine Textstelle auf der Seite 206. Hier beschreibt Arnaldur Indriðason einen Dichter, der der Lieblingsdichter von Konráðs Mutter gewesen sei, einen Mann mit einem fehlgebildeten Arm, ebenso wie Konráð selbst. Jeder Isländer, jede Isländerin wird anhand dieses Beschreibung und der wenigen nachfolgenden Zeilen sofort wissen, um welchen Dichter es sich handelt, auch wenn sein Name nicht genannt wird: Es ist der große, für die Entwicklung der isländischen Poesie so wegweisende Steinn Steinarr. Dass Arnaldur Indriðason ihn in seinem Krimi erwähnt, scheint mir mehr als nur eine nette Geste zu sein.
Erschienen ist der Roman Wand des Schweigens als Hardcover und eBook in der Übersetzung von Kristof Magnusson im Lübbe Verlag und ist bei LÜBBE AUDIO auch als Hörbuch, gelesen von Walter Kreye, erhältlich.