Zu Weihnachten ein Gedicht aus Island

Am 1. Weihnachtstag hat die Online-Literaturzeitschrift Signaturen-Magazin ein Gedicht aus den Texten, die Jón Thor Gíslason und ich für ihre Reihe Wortlaut Island übersetzt haben, gewählt, von dem ihr Herausgeber Kristian Kühn der Meinung war, das es zum Geist dieser Festtage passt. Und wir stimmen ihm gerne zu.
Geschrieben hat das Gedicht Halla Þórlaug Óskarsdóttir, entnommen haben wir es dem Ljóðbréf Nr. 5, einen Poesiebrief, den die isländischen Schriftsteller Dagur Hjartarson und Ragnar Helgi Ólafsson (von beiden hat der ELIF Verlag übrigens eigene Gedichtbände in deutschsprachiger Übertragung veröffentlicht …) 2022 einmal mehr für den Tunglið forlag in Reyjkavík, dem dortigen Mond Verlag zusammengestellt haben.
FI306 & FI307 Sie liegt auf mir in wie es scheint recht unbequemer Lage, der Kopf ist abgeknickt und gegen die Sitzlehne aus Eisen gepresst. Sie wächst schnell, das wird deutlich in diesem Augenblick, doch trotz des körperlichen Unbehagens nehme ich momentan nur die Wärme wahr, die von ihren weichen Wangen kommt. Ich streichle den kleinen, schmalen Hals, umfasse sie mit meinen Armen und mir wir innerlich ganz warm, als sie im Schlaf meine Hände sucht und sie hält. Ich flüstere ihr etwas zu, an dass sie sich stets erinnern möge: dass meine Liebe zu ihr so groß ist wie die ganze Welt und das All. Wie der Weg zu den Sternen, zur Sonne, zum Mond, hin und zurück. Sie wacht nicht auf, bewegt sich aber im Schlaf, sucht eine bessere Lage, und ich schließe die Augen. Irgendein Passagier tritt mir auf den Fuß, der in den Gang hineinragt. * Auf dem Rückweg, mit derselben Maschine, fragt mich die Stewardess, ob ich es war, die vorhin das kleine Mädchen begleitet habe, sie fragt mich, ob man mir vielleicht anbieten dürfe, auf dem Heimweg in der ersten Klasse zu sitzen. Beim Start fühle ich mich absolut leer, in einem geräumigen Sitz.

Halla Þórlaug Óskarsdóttir wurde 1988 geboren. Sie hat einen BA-Abschluss in bildender Kunst und einen MA-Abschluss in kreativem Schreiben. Seit 2012 arbeitet sie im Kulturbereich als Künstlerin, Autorin, Produzentin, Kritikerin und Reporterin in verschiedenen Medien, die längste Zeit als Radiomoderatorin bei RÚV, dem öffentlichen isländischen Rundfunk.
Ihr Kurzroman / Gedichtband Þagnarbindindi / Ein Spiel der Stille wurde 2021 mit dem Poesiepreis Maístjarnan / Der Maistern, einem der höchsten Literaturpreise Islands für einen Lyrikband, ausgezeichnet. Ihre veröffentlichten Arbeiten umfassen Artikel in Zeitungen, Literaturzeitschriften und Online-Plattformen sowie Radiobeiträge, Hörspiele und Bühnenwerke, die von anderen, aber auch von ihr selbst aufgeführt werden, wie Are you here?, eine fortlaufende gemeinsame Recherche, die sie mit ihrer Freundin aus Kindertagen, der Tänzerin und Choreografin Ásrún Magnúsdóttir, durchführt. Halla Þórlaug Óskarsdóttir lebt in Reykjavík.
PS: Sollten Sie nach dem Lesen dieses Beitrags nun Interesse verspüren, weitere Gedichte von isländischen Lyrikerinnen und Lyrikern kennenzulernen – ein Click auf Wortlaut-Island führt Sie zu vielen anderen Beispielen aus dem Land, in dem die Dichtkunst immer noch als die höchste Kunstform (nicht nur der Literatur) gilt. Herzlichen Dank – und allen einen zuversichtlichen Start ins Neue Jahr!