Der Morgen bricht an über der Stadt

Drei Gedichte von Jón Kalman Stefánsson

Als in der Online-Literaturzeitschrift Signaturen-Magazin gestern in unserer, des Übersetzer-Duos Gíslason/Schiffer Übertragung drei Gedichte des isländischen Schriftstellers Jón Kalman Stefánsson erschienen, schrieb der Fotograf, Autor, Islandkenner und Verleger der Silverhorse Edition Peter Ettl spontan:

Einer der besten Romanautoren Islands. Dass er auch Gedichte schreibt, und gute dazu, ist eine Überraschung.

Eines dieser so bewerteten Gedichte will ich heute auch hier veröffentlichen; die beiden anderen (sowie eine große Auswahl weiterer lyrischer Zeugnisse aus Island) finden sich mittels eines Clicks auf den hier entsprechend unterlegten Link zur Reihe Wortlaut Island.

Entnommen sind die Gedichte von Jón Kalman Stefánsson seinem jüngsten Band, dem 2021 im Verlag Benedikt in Reykjavík veröffentlichten Werk Djöflarnir taka á sig náðir og vakna sem guðir / Die Teufel gehen zu Bett und erwachen als Götter; die Veröffentlichung der Übersetzungen finden mit freundlicher Genehmigung der Copenhagen Literary Agency ApS, Copenhagen statt.

DER MORGEN BRICHT AN ÜBER DER STADT 

und das Licht fegt die Dunkelheit von den höchsten Dächern,
der Gletscher, der alte Feuerkegel 
auf der anderen Seite der großen Bucht, so breit,
dass ich ein Fernglas brauche oder
zwei Tage, um dorthin zu kommen 

der Morgen bricht an, und dann erwachen wir,
alle drei

ich, die Welt und der Husten
meines Nachbarn 

Nächtens sind die Welt und mein Nachbar beide still,
aber das Erwachen ist unruhiger als der Schlaf,
und seine Träume manchmal schwieriger –
er hustet eine halbe Stunde lang, vierzig Minuten,
er reinigt sich, es steckt so viel Nacht in ihm drin,
so viele ungenutzte Träume,
er hustet heftig, manchmal aus Verzweiflung,
in jedem Husten eine lang gerauchte Zigarette,
in jedem Husten eine Erinnerung daran, 
was wir nicht hätten tun sollen

oder was wir lieber getan hätten

Ich schaue mir den Gletscher durch das Fernglas an,
mein Nachbar hustet,
bald werden sie beide verschwinden
Jón Kalman Stefánsson Photo: Einar Falur Ingólfsson einarfalur@gmail.com Tel: (+354) 669 1206

Jón Kalman Stefánsson, geb. 1963 in Reykjavík, verbrachte einen Großteil seiner frühen Jahre in Westisland, wo er verschiedenen Jobs nachging: in einem Schlachthof, in der Fischindustrie, als Maurer und einen Sommer lang als Polizist am internationalen Flughafen Keflavík. Von 1986 bis 1991 studierte er Literaturwissenschaft an der Universität von Island, schloss sein Studium jedoch nicht ab. Die nächsten acht Jahre unterrichtete er Literatur an zwei Schulen in Akranes. Gleichzeitig schrieb er Artikel und Rezensionen für die Zeitung Morgunblaðið und für den isländischen Radiosender RÚV. Von 1992 bis 1995 lebte er in Kopenhagen. Nach seiner Rückkehr arbeitete er bis zum Jahr 2000 als Bibliothekar in der Bibliothek Mosfellsbær in der Nähe von Reykjavík. Seitdem ist er hauptberuflich als Schriftsteller tätig.

Sein erstes veröffentlichtes Werk, der Gedichtband Með byssuleyfi á eilífðina / Ein Waffenschein für die Ewigkeit, erschien 1988. Es folgten weitere Gedichtbände, zuletzt 2021 Djöflarnir taka á sig náðir og vakna sem guðir / Die Teufel gehen zu Bett und erwachen als Götter, dem die heutigen Gedichte entnommen sind, und eine Reihe von Romanen, von denen Sumarljós, og svo kemur nóttin / Sommerlicht und dann kommt die Nacht 2005 den Isländischen Literaturpreis gewann. Drei seiner Bücher wurden auch für den Literaturpreis des Nordischen Rates nominiert.

Die meisten seiner Romane sind auch ins Deutsche übersetzt, zuletzt Sága Ásta / Ástas Geschichte. Sehr große Aufmerksamkeit erfuhr auch hier seine Romantrilogie um einen nur „der Junge“ genannten Protagonisten im Island vor mehr als 100 Jahren: Himmel und Hölle, Der Schmerz der Engel und Das Herz des Menschen.

Das Foto zu Beginn des Beitrags zeigt den Gletscher Snæfellsjökull, von Reykjavík aus gesehen. Auf genommen wurde das Bild im Januar 2018 von Sybille Schütz bei einem gemeinsamen Aufenthalt in Island.

 

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Über Wolfgang Schiffer

Literatur (und alles, was ihr nahe ist) ist m. E. eines unserer wichtigsten Nahrungsmittel. Also zehre ich von ihr und versuche, sie zugleich zu nähren: als Autor, als Übersetzer, als Vermittler und nicht zuletzt als Hörer und Leser.
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