Voller Poesie ist dieser Abend

Städte laden Persönlichkeiten von Rang gerne dazu ein, sich ins Goldene Buch der Stadt einzutragen. Das hierbei auch einmal Poesie zu Gehör gebracht werden kann, bewies jüngst Eliza Reid, Gattin des isländischen Staatspräsidenten Guðni Th. Jóhannesson und Co-Gründerin des Iceland Writers Retreat & Iceland Readers Retreat , als sie am 31.Mai in Heidelberg einer solchen Einladung folgte.
Sie verlas ein Gedicht, auf Isländisch und auf Deutsch, der 2016 gestorbenen isländischen Lyrikerin Ingibjörg Haraldsdóttir.
Wir, das Übersetzer-Duo Gíslason/Schiffer, hatten zuvor die Freude und Ehre, das Gedicht für diesen Anlass übersetzen zu dürfen. Entnommen ist es Ingibjörg Haraldsdóttirs 1989 erschienenem Gedichtband Nú er aðrir tímar / Jetzt sind andere Zeiten.
ÞRÁ
Ljóðrænt þetta kvöld
að dregnum tjöldum:
dumbrautt vín í glasi
kristall skær og þögnin
flauelsmjúk og hlý
opin bók í kjöltu
sálin full af löngun
sálin full af þrá
ó að lífið
ó að lífið
ó að lífið væri ljóð.
SEHNSUCHT
Voller Poesie ist dieser Abend
mit den geschlossenen Vorhängen:
kastanienroter Wein in einem Glas
das Kristall leuchtet und die Stille
ist weich wie Samt und warm
ein aufgeschlagenes Buch auf dem Schoß
die Seele voll Verlangen
die Seele voller Sehnsucht
oh wäre das Leben
oh wäre das Leben
oh wäre das Leben doch ein Gedicht.
Inzwischen hat das Gedicht auch noch eine breitere Öffentlichkeit erfahren: Die Online-Literaturzeitschrift Signaturen-Magazin hat es am 12. Juni in ihrer neuen Reihe (Ich seh dich besser im) Morgen veröffentlicht.
Ingibjörg Haraldsdóttir wurde 1942 in Reykjavík geboren, studierte später an der staatlichen Filmschule in Moskau, welche sie 1969 mit dem Regiediplom abschloss. Danach lebte und arbeitete sie für einige Jahre in Havanna. Während ihrer Zeit in der UdSSR und Kuba arbeitete sie auch als Journalistin und Übersetzerin für die isländische Zeitung Volkswille, bei der sie nach ihrer Rückkehr nach Reykjavík im Jahre 1975 weiterhin als Autorin und Filmkritikerin tätig war.
Seit 1981 allerdings arbeitete sie nur noch als freischaffende e Schriftstellerin und Übersetzerin. Seit ihrem ersten Gedichtband, Þangað vil ég fljúga / Dorthin will ich fliegen (1974), veröffentlichte sie mehrere weitere Gedichtbände und machte sich auch als Übersetzerin aus dem Spanischen und Russischen (u. a. von Werken Dostojewskis und Bulgakows und der Lyrik Anna Achmatowas) einen Namen. Für ihre literarische und übersetzerische Arbeit wurde sie mit verschiedenen Ehrungen bedacht, so mit dem Guðmundur-Böðvarsson-Poesiepreis und dem Isländischen Literaturpreis.
Sie starb, als Schriftstellerin und als Mensch hochgeachtet, am 8. November 2016.

Eine feine Poesie. Aber Wolfgang, Du bist der letzte Lebende am Tisch? Hart. Herzliche Grüße aus der Schorfheide
Ja, deshalb macht es mich sehr traurig, wenn ich jetzt dieses Foto sehe! Sie alle waren gute, sehr gute Freunde von mir in Island! Und sie alle haben inzwischen eine andere Reise angetreten …
… wir treffen und dort.
Hat dies auf http://www.ne-na.me rebloggt.
Danke, lieber Gunnar! Dein Weitersagen freut mich …
So wunderbare Dichter, Autoren und Übersetzer!