Neue Gedichte der Isländerin Þórdís Helgadóttir

Vielleicht ist es eine Verbeugung vor dem Weltfrauentag, dass die Online-Literaturzeitschrift Signaturen-Magazin in ihrer Reihe Wortlaut Island soeben Gedichte aus der Feder einer Frau veröffentlicht hat; wie auch immer, wir, das Übersetzer-Duo Gíslason/Schiffer, danken auch und vor allem im Namen der Dichterin Þórdís Helgadóttir sehr herzlich.
Die Autorin ist Leserinnen und Lesern von Wortlaut Island (und dieses Blogs) keine Unbekannte; vor gut einem Jahr haben wir sie hier bereits einmal vorgestellt, und zwar mit ihrem Gedicht Phasenwechsel, für das sie damals mit dem angesehen Jón-úr-Vör-Poesiestab ausgezeichnet worden war. Nun eröffnet dieses Gedicht einen Lyrikband mit dem Titel TANNTAKA / ZAHNEN, erschienen 2021 im Verlag Mál og menning in Reykjavík.
Fünf weitere Gedichte aus diesem Band hat das Signaturen-Magazin jetzt veröffentlicht. Eines davon will ich hier zitieren.
Zeichen für Wunder
In diesem Gedicht sind die Zeilen Haare,
das tote Teil von mir,
ein Gewicht, das den Kopf nach hinten zieht
und die Augen hoch.
Hin und wieder gibt es Hagelschauer
in der Karwoche, wenn die Kinder
den Mund aufmachen, fallen keine
Wörter heraus, sondern Zähne
und der Heilige Geist, wann
immer sie ein Ei oder die
Augen öffnen und der Schlaf
Zahnschmelz in Gold verwandelt hat.
Im Leben geht es darum, zunehmend nichts
zu verstehen. Ich brauche einen neuen
Mund, denn meiner ist ein Saustall, ein Nest
aus Stille und bleichen Bakterien,
die stören den reinen Ton.
Die Auster sucht ein gesalzenes,
saures, süßes, bitteres und blutiges
Loch im Gaumen des Kinds.
Spiegelneuronen spielen Geschmacksknospen
und die Zähne spielen Perlen,
doch im Kern geht es um eine Schere,
eine Umarmung scharfer Klingen.
Die Voraussetzung für eine Person ist ein Messer.
Zwischen Nacken und Bug,
Haut und Tuch, Wald und Hütte.
Um die Schnur durchzuschneiden,
wenn der Bauch sinkt
und wir uns aufrichten wollen,
die Last abwerfen,
sobald sie aus dem Kopf schießt.
Sollte dieser Text nun neugierig gemacht haben auf weitere Gedichte von Þórdís Helgadóttir, so finden sich diese bei einem Klick auf diesen LINK.

Þórdís Helgadóttir, geboren 1981 in Reykjavík, studierte Philosophie, Schreiben und Redigieren an der Universität von Island, der Rutgers University in New Jersey und der Universität von Bologna. Neben ihrer Tätigkeit als Texterin und Ideengeberin in einer Werbeagentur veröffentlichte sie Kurzgeschichten, Gedichte und Essays in verschiedenen Literaturzeitschriften sowie Theaterstücke, die im Stadttheater von Reykjavík aufgeführt wurden. Von 2019 bis 2020 hatte sie hier zudem die Position einer „Dramatikerin in Residence“ inne. Neben anderen Veröffentlichungen erschien 2018 im Verlag Bjartur die Kurzgeschichten-Sammlung Keisaramörgæsir / Kaiserpinguine. Für ihr Gedicht Fasaskipti / Phasenwechsel wurde sie 2021 mit dem Jón-úr-Vör-Poesiestab ausgezeichnet, ein in Island angesehener Preis für Lyrik, benannt nach dem bekannten Bibliothekar und Dichter (u. a. der 1946 erschienenen Gedichtsammlung „Das Dorf“) Jón Jónsson alias Jón úr Vör (1917 – 2000). Dieses Gedicht eröffnet ihren im Herbst 2021 erschienenen Gedichtband Tanntaka / Zahnen.
Þórdís Helgadóttir ist Mitglied des Schriftstellerinnenkollektivs Svikaskáld / Betrügerische Dichterinnen.