Zum 100. Geburtstag des isländischen Dichters Einar Bragi

Foto © Wolfgang Schiffer
Welch schöne Überraschung für das Übersetzer-Duo Gíslason/Schiffer am letzten Tag des Jahres 2021!
Mit Das Sonnenkind stellte das Signaturen-Magazin nach zuletzt Stefán Hörður Grímsson einmal mehr ein Gedicht eines der sogenannten Atomdichter Islands vor: Einar Bragi. Und das zu dessen Geburstag, der sich 2021 zum hundertsten Mal gejährt hat.
Einar Bragi (1921 bis 2005) war einer der konsequentesten und streitbarsten Erneuerer der isländischen Poesie. Neben seinem umfangreichen lyrischen Werk publizierte er zahlreiche Artikel, in denen er sich gegen die seinerzeitigen Anfeindungen von Seiten der Traditionalisten zur Wehr setzte und eine Modernisierung der Dichtkunst, wie sie die Atomdichter einleiteten, als dringend notwendig forderte. Auch gründete er 1953 mit der Zeitschrift Birtingur ein Publikationsorgan, das den neuen Strömungen in der Literatur, aber auch denen der Bildenden Kunst, der Musik und so weiter, bis zu seiner Einstellung im Jahr 1968 eine kreative Plattform bot. All dies habe ich mit meinem leider verstorbenen Freund Eysteinn Þorvaldsson dokumentiert in dem umfangreichen Band Bei betagten Schiffen – Islands Atomdichter, erschienen 2011 in der Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik die horen.
Zum 100. Geburtstag des Dichters hat in Island der Verlag Dimma eine sehr schöne, in Leinen gebundene Ausgabe gesammelter Gedichte des Lyrikers herausgegeben, Ljóðasafn I – II, darin natürlich auch Eitt kvöld í júní / Ein Abend im Juni, der erste, 1950 erschienene Gedichtband des Autors; ihm ist das Gedicht Das Sonnenkind entnommen.
Das Sonnenkind
Der Goldregenpfeifer tiriliert
oh Herrlichkeit oh Herrlichkeit
der Regenbrachvogel trillert
auf der Wiese ist Löwenzahn gewachsen
f r ü h l i n g
und die Gasse
glüht zögernd
im gelben Sonnenlicht
d e r m o r g e n
und ein leicht bekleidetes Zappelgör
tollt den Weg entlang
und die hellen Locken schwingen
wie lebendige Wellen
und es fühlt sich wohl im Herzen
obwohl es
auf dem Weg zur Arbeit ist
in dem finstren Laden
es sind
der Goldregenpfeifer
der Regenbrachvogel
der Löwenzahn
die Sonne
der Frühling
der Morgen
s i e
die ihm in die Brust
geflogen sind
Teufel noch eins!
die Mantelmöwe hat Eier gelegt
heute Nacht ist jemand
draußen auf den Inseln gewesen
und hat ein Ei auf den Gehweg
fallen lassen
Vala Vala du Wahrsagerin
ich frage dich
wird heute Abend
schönes Wetter sein
so wahr ich hier stehe
nach Ladenschluss
werde ich Eier
suchen gehen
und es dreht den Schlüssel im Schloss
und verschwindet
im Laden
Der Titel des Gedichtbands Eitt kvöld í júni / Ein Abend im Juni hat meinen Freund und Mit-Übersetzer, den in Düsseldorf lebenden isländischen Maler Jón Thor Gíslason übrigens bereits 2011 zu einem Bild gleichen Titels angeregt; es soll hier keinesfalls ungezeigt bleiben.
PS: Seit November 2020 veröffentlicht das Signaturen-Magazin in mehr oder weniger regelmäßiger Folge Übersetzungen von Gedichten isländischen Ursprungs. Hierzu hat die Online-Literaturzeitschrift eigens eine Reihe eingerichtet: Wortlaut Island. Was hier bislang erschienen ist und in Zukunft weiterhin erscheinen wird, kann bei Interesse unter diesem LINK gelesen werden.