dass das Leben zeichnen und schreiben könne

Der große isländische Dichter Sigurður Pálsson

Es gibt die deutsche Übertragung eines Gedichtbands, die hätten wir, das Übersetzer-Duo Gíslason/Schiffer und der ELIF Verlag, gerne noch zu Lebzeiten des Autors veröffentlicht, aber das war diesem nicht vergönnt: Der große isländische Schriftsteller Sigurður Pálsson starb am 19. September 2017, nur Monate nachdem Ljóð muna rödd, sein letzter Gedichtband, erschienen war.

Umso mehr freut es uns, dass wir nun in der Reihe Wortlaut Island des Signaturen-Magazins einmal mehr an ihn erinnern können, noch dazu mit einem Gedicht aus Gedichte erinnern eine Stimme, der im Frühjahr 2019 erschienenen deutschsprachigen Ausgabe dieses Bandes, das zu meinen Lieblingsgedichten des Autors zählt.

 

Stimmen in der Luft

III

Verzeiht mir dass ich den Windhauch erwähne

während das Blei beim letzten Buchstaben

des Spektrums angekommen

einem jeden bedeutet Erde zu fressen

 

Aber ich muss davon sprechen

dass ich den Windhauch erwachen sah

während die Düsenjets Streifen

auf die Seiten des Himmels schrieben

 

ich sah ihn langsam über den Küstenstreifen kommen

sich ausruhen

einschlafen beinah

dann richtete er sich ein wenig auf

und strich durch die Johannisbeersträucher

 

Ich sah dies heute Morgen

als das Leben gerade die Bäume zeichnete

die im Garten dösten

die Fliegen im Balkonfenster

 

Die Katzen waren nirgendwo zu sehen

an diesem stillen Morgen

Der Rhabarber hielt

in seinem Wachstum inne

Die ganze Insel ruhte aus

wie am ersten Ruhetag

 

Im warmen Schatten der großen Bäume

breitete der Morgen einen

grünen Teppich

für ein Picknick aus

 

Während der Windhauch zum Balkon hoch glitt

fand er ein Buch soeben vom Leben geschrieben

er las es durch von Anfang bis Ende

und entbrannte vor Begeisterung

er fuhr durch alle Straßen

und erzählte den Leuten

was er gelesen hatte

 

Erzählte den Leuten

von dem großen Wunder

 

dass das Leben zeichnen und schreiben könne

und er könne lesen

 

Foto: © Jóhann Páll Valdimarsson
 

Sigurður Pálsson, geboren 1948 in Skinnastaður im Norden Islands, studierte französische Sprache und Literatur in Toulouse und an der Sorbonne sowie Theaterwissenschaften und Filmregie am Conservatoire Libre du Cinéma Français in Paris. Nach seiner Rückkehr nach Island war er als Dozent an der dortigen Universität und an Kunstakademien, Theater- und Schauspielschulen tätig, arbeitete als Journalist und bei Film und Fernsehen. Vor allem aber veröffentlichte er seit seinem 1975 erschienenen lyrischen Debüt Ljóð vega salt (in etwa: Gedichte in der Waage) fünfzehn weitere Gedichtbände, drei Romane, drei Erinnerungsbände, mehrere Theaterstücke, Opernlibretti, Fernseh- und Radiomanuskripte sowie Übersetzungen, insbesondere aus dem Französischen, darunter von Schriftstellern wie Fernando Arrabal, Jean Genet, Jacques Prévert, Paul Éluard, Albert Camus und Patrick Modiano. Für seine Veröffentlichungen erhielt er zahlreiche literarische Ehrungen und Auszeichnungen, u. a. in 2007 den Isländischen Literaturpreis und ein Jahr später die Auszeichnung Chevalier de l´Ordre du Mérite für seinen Beitrag zur Verbreitung französischer Kultur in Island. Für seine Verdienste um die isländische Literatur und Kultur wurde er 2017 zum Ritter des Isländischen Falkenordens ernannt.

Sigurður Pálsson starb am 19. September 2017 in Reykjavík. Wenige Monate zuvor noch war ihm für seinen letzten Gedichtband Ljóð muna rödd / Gedichte erinnern eine Stimme der vom isländischen Schriftstellerverband und der isländischen Nationalbibliothek erstmals verliehene Poesiepreis Maistern verliehen worden; postum wurde der Dichter mit Ljóð muna rödd / Gedichte erinnern eine Stimme für den Literaturpreis des Nordischen Rates 2018 nominiert. Die im ELIF Verlag erschienene Übertragung des Gedichtbands ins Deutsche wurde auf die Hotlist 2019 gewählt, die Liste der 10 besten Bücher aus den unabhängigen Verlagen im deutschsprachigen Raum.

 

 

 

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Über Wolfgang Schiffer

Literatur (und alles, was ihr nahe ist) ist m. E. eines unserer wichtigsten Nahrungsmittel. Also zehre ich von ihr und versuche, sie zugleich zu nähren: als Autor, als Übersetzer, als Vermittler und nicht zuletzt als Hörer und Leser.
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