Die Erzählkunst des Niederländers J.M.A. Biesheuvel

Es ist eine wahre Wohltat für den Literaturbegeisterten, dass der Verlag Faber & Faber seit seiner Neugründung im Jahr 2019 wieder „mitmischt“ im Buchgeschehen hierzulande, werden hier ja nicht nur schöne und bedeutende Texte in bester Buchkunst wiederentdeckt und – bereichert durch Illustrationen hervorragender Künstler – womöglich endgültigem Vergessen entrissen, nein, es erscheint ja auch Neues – in eben solcher Gestaltung –, das es erst einmal zu entdecken gilt.
In diesem Frühjahr waren es gleich zwei Titel, die mich auf diese Weise beglückten. Da ist zunächst der Roman Weiße Rentierflechte der nenzischen Autorin Anna Nerkagi, die erste Veröffentlichung einer nenzischen Autorin im deutschsprachigen Raum überhaupt, der, poetisch aufgeladen, von einer tragischen Liebesgeschichte in Nordwestsibirien erzählt, vom Konflikt eines Lebens zwischen nomadischer Tradition und individueller Glückssuche.
Eine Handvoll eindrucksvoller Fotografien des berühmten Fotografen Sebastião Salgado lassen den Betrachter / Leser gleich zu Beginn in die ungewöhnliche Atmosphäre dieses Werkes ahnen.
Noch hochgestimmter, und das nicht zuletzt auch aus ganz persönlichen Gründen, ließ mich dann ein zweiter Titel sein: Reise durch mein Zimmer von J.M.A. Biesheuvel. Als ich nach der unaufgeforderten Zusendung durch den Verlag die Versandtasche entfernt hatte, entdeckte ich nämlich schon auf dem Cover außer dem Namen des Autors den Namen eines guten Freundes, des Malers Peter K. Kirchhof; er hatte die Illustrationen zu dem Buch geschaffen. Und kaum hatte ich die erste bedruckte Seite des etwa 120 Seiten starken Buchs aufgeschlagen, las ich die zweite freudige Überraschung; ein weiterer guter Freund hatte den Titel aus dem Niederländischen übersetzt: Ulrich Faure.
Diese Beiden werde ich nun, obwohl sie es für das jeweilige Ergebnis ihres Könnens mehr als verdienten, natürlich nicht loben; es könnte doch allzu leicht als pure Freundschaftsgeste ausgelegt werden. Mit Nachdruck empfehlen will ich aber die Grundlage für ihre Arbeit, die vier Geschichten des Niederländers, die das Buch enthält.
Ich gestehe, dass mir J.M.A. Biesheuvel bis zu dieser Lektüre unbekannt war. Eine kurze Recherche ergab zwar, dass 1986 in der edition suhrkamp bereits einmal eine Sammlung einiger seiner Geschichten erschienen ist, doch die hatte ich nicht gelesen und bin auch selbst unter dezidiert Literaturinteressierten in diesem Nichtlesen wohl nicht allein. Die Recherche ergab aber auch, dass Jacobus Martinus Arend Biesheuvel, so sein vollständiger Name, in den Niederlanden sehr bekannt ist und zumindest eine Auswahl seiner vielen Hunderte Erzählungen in keinem öffentlichen und wohl auch privaten Bücherregal fehlt; hier in der Heimat wurde er mit bedeutenden Preisen geehrt und gilt als großer Meister der kleinen Form, seit 2015 wird in den Niederlanden sogar ein Preis für die beste Kurzgeschichten-Sammlung vergeben, der seinen Namen trägt: der JMA-Biesheuvel-Preis.

Die jetzt vorgelegte Auswahl beginnt mit der kurzen Geschichte Moped auf hoher See. Sie berichtet von Isaac, dem Schiffsjungen, der sich nicht recht entscheiden kann, ob er an Land bleiben oder zur See fahren soll; wann immer er wo ist, überkommt ihn die Sehnsucht nach dem jeweils Anderen. Die Erfahrung von Einsamkeit und der Sehnsucht nach Ferne gipfelt schließlich in der surrealen Begegnung mit einem Mopedfahrer, der über das Meer reist, und im eigenen Versuch, es den Albatrossen gleichzutun.
Zwei weitere kürzere Texte bilden den Abschluss des Bandes: Der Dienst, die kafkaesk anmutende Skizze einer Organisation, die mit der Versetzung des Matterhorn-Gipfels beauftragt ist, und Brief an Vater, ein berührendes autobiografisches Bekenntnis zu einem Jahrzehnte währenden psychischen Leiden, in dem der Autor Hilfe vom längst verstorbenen Vater erfleht.
Bis zu meinem sechsundzwanzigsten Lebensjahr war ich ein glücklicher Mensch, und dann bin ich im Irrenhaus gelandet. Vater, ich bin jetzt schon achtundzwanzig Jahre lang krank, ich gehöre nicht in diese Gesellschaft, und ich gehöre nicht in mein Arbeitszimmer, das heißt, ich fühle mich nirgendwo zu Hause. Ich kann nicht reisen. In letzter Zeit kann ich auch nicht mehr lesen (…) Vater, Ihr Sohn geht zugrunde, und ich werde nie wieder aufstehen.

Ich kann nicht reisen … Wie der Autor dennoch die ganze Welt bereist, ohne sein Arbeitszimmer je zu verlassen, davon handelt die längere Erzählung zwischen der ersten und den zwei letzten Geschichten, die auch den Titel des Buches gibt: Reise durch mein Zimmer. 1200 Hängeregistraturen, voll mit Geschichten, seine Remington-Schreibmaschine, die sich kaum sehr von der Maschine unterscheiden dürfte, auf der Leo Tolstois Sekretärin dessen Diktate schrieb, der Schreibtisch, die Olivetti des Vaters, Bilder, Fotos von Schriftstellern, Filmschauspielern (u.a. von Marylin Monroe) und von allen möglichen Orten der Welt, all dies und vieles mehr und die Erinnerungen, die es auslöst, lassen den Autor die Welt aus seiner Sicht erleben: zwischen Realismus und Fantasie, zwischen Wehmut und Fernweh.
Was spielt es denn für eine Rolle, wie groß das Universum ist, wenn mein Zimmer für mich so interessant ist?
Das Zitat, das uns in den Zeiten der Corona-Pandemie heute wie ein Trost erscheinen mag, war für J.M.A. Biesheuvel nur die verzweifelte Alternative zu seinen Depressionen und Angstzuständen. Mehr dazu und zu dem herausragenden Werk, das der 1939 geborene und im Juli 2020, also vor dem Erscheinen der deutschsprachigen Ausgabe seiner vier Erzählungen gestorbene Autor geschaffen hat, erfahren Leserinnen und Leser in einem ausführlichen Nachwort des Übersetzers Ulrich Faure.
Vielen Dank für die Vorstellung dieser beiden so unterschiedlichen Bücher, lieber Wolfgang. Meine Leselust ist geweckt.
Das freut mich, liebe Angelika! Danke!
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