Glücksmomente in Sachen Literatur (1)
Dass der Umgang mit Literatur, die Auseinandersetzung mit ihr und das häufige Vergnügen an ihr zu den beglückendsten Dingen in meinem Leben zählt, ist eine beinah alltägliche Erfahrung. Wie sehr sich ein solches Glücksgefühl allerdings noch steigert, wenn man mit dem, was man da lesend wahrnimmt, geradezu persönlich zu tun hat oder sogar darin „vorkommt“, das durfte ich in den vergangenen Tagen gleich zwei Mal erfahren.
Die erste Erfahrung will ich heute gerne schildern, muss dazu aber ein klein wenig ausholen. Durch Anfragen weiß ich, dass es dem einen oder der anderen längst aufgefallen ist, dass es in der letzten Zeit hier in meinen „Wortspielen“ recht ruhig zugegangen ist und nur wenig Neues zu lesen gab. Die geringere Frequenz lag daran (und wird auch für eine Weile noch so bleiben müssen), dass ich gemeinsam mit meinem Freund, dem Maler Jón Thor Gíslason, nach Denen zum Trost, die sich in ihrer Gegenwart nicht finden können von Ragnar Helgi Ólafsson an einer erneuten Übersetzung eines isländischen Gedichtzyklus gearbeitet habe: frelsi / freiheit von Linda Vilhjálmsdóttir.
In den vergangenen Wochen stand der Feinschliff an, nun gefolgt vom Korrekturlesen und den Überlegungen mit Gestalter und Verlag, wie das abermals als zweisprachige Edition angelegte Werk am Ende denn aussehen soll. Einen ersten Entwurf für das Cover gibt es bereits – und wir sind uns alle miteinander einig, dass sich das endgültige nicht sehr davon unterscheiden wird. Publiziert wird das Buch wie die Gedichte von Ragnar Helgi Ólafsson zuvor im September dieses Jahres im Elif Verlag.
Mitten in diese Arbeiten hinein platzte nun eine wunderbare Nachricht! Linda Vilhjálmsdóttir ist am 25. März dieses Jahres für ihren Gedichtband frelsi mit der Auszeichnung „Europäischer Dichter der Freiheit“ geehrt worden. Verliehen wurde ihr dieser hoch dotierte Preis zusammen mit Jacek Godek, ihrem Übersetzer ins Polnische, auf dem alle zwei Jahre veranstalteten gleichnamigen internationalen Literaturfestival (Europejską Poetką Wolności), das in diesem Jahr zum fünften Mal in Danzig stattfand.
Wir, ihre Übersetzer ins Deutsche und der Elif Verlag, gratulieren Linda Vilhjálmsdóttir aufs Herzlichste!
Und – es bedarf wohl auch nicht vieler Worte, um die große Freude zu erklären, die wir, die Gratulanten, über diese Würdigung der Dichterin empfinden, zumal ihr so gepriesenes Werk bald in deutschsprachiger Übertragung zu lesen sein wird.
Mit dem Gedichtband frelsi / freiheit beendete Linda Vilhjálmsdóttir, eine der bedeutendsten Lyrikerinnen der zeitgenössischen isländischen Literatur, 2015 ihr mehrere Jahre währendes literarisches Schweigen. Bekannt war sie gleich mit ihrem ersten Band geworden, Bláþráður / Blaufaden, der 1990 erschien und seine Leser*innen vor allem durch die bedingungslose Emotionalität, mit der die Autorin darin seelische und soziale Zustände ausleuchtete, gefangen nahm. Diese kraftvolle und zugleich einfühlsame Stimme findet sich auch in ihrem neuen Werk, einem höchst politischen Zyklus, nicht zuletzt entstanden aus Empörung und Wut über das leichtfertige Agieren und folgenreiche Versagen von Menschen vor, während und nach den Katastrophen der zurückliegenden Finanz- und Staatskrise ihres Landes. Doch auch wenn die Autorin weite Teile ihres Zyklus in Bezug setzt zum gesellschaftlichen Diskurs in ihrer Heimat, so weist er doch weit über Island hinaus. Dieses Werk meint und trifft die ganze ins Wanken geratene Welt.
Einige wenige Textbeispiele aus dem Band, die ich hier noch vor dem Erscheinen zitieren will, mögen dies zeigen. Es folgt zunächst jeweils das isländische Original, sodann die Übertragung.
við höfum
gengið svo langt
í nafni föður og sonarsvo langt
í tíma og rúmi
að sálin varð eftirí annarri vídd
wir sind
so weit gegangen
im namen des vaters und des sohnesso weit
in raum und zeit
dass die seele zurückbliebin einer anderen dimension
við höfum
umskapað lífið á landisameinað og / eða einfaldað
fénaðinn skriðkvikindin og villidýrinhámarkað og / eða takmarkað
nýtingu skepnunnar í þágu hins alfrjálsa
manns
wir haben
das leben im lande umgeformtvereinigt und / oder vereinfacht
das vieh die kriechtiere und das wildmaximiert und / oder begrenzt
die verwertung des tieres im interesse
des allfreien menschen
við höfum ummyndað
fuglana ungana egginhrognin seiðin og fiskana
allt þetta mjúka og magnaðasæðið og frumuna
frelsið
wir haben die vögel
die küken die eier verändertden rogen die fischbrut den fisch
das ganze weiche und gewaltigeden samen die zelle
die freiheit
Linda Vilhjálmsdóttir wurde 1958 in Reykjavík / Island geboren, sie arbeitete für viele Jahre als Krankenpflegerin. Nach ersten Veröffentlichungen in verschiedenen Zeitungen und Literaturzeitschriften erschien 1990 mit Bláþráður / Blaufaden ihr erster Gedichtband; ihm folgten bisher fünf weitere Gedichtbände, mehrere Theaterstücke und ein autobiografischer Roman. Nach diversen deutschsprachigen Veröffentlichungen ihrer Lyrik, vor allem in der Literaturzeitschrift die horen, erschien 2011 die Übersetzung ihrer Gedichtbände Öll fallegu orðin / Alle schönen Worte und Frostfiðrildin / Frostschmetterlinge im Verlag Kleinheinrich in Münster sowie eine kleine Auswahl ihrer bis dahin veröffentlichten Gedichte in der von Wolfgang Schiffer herausgegeben Anthologie Am Meer und anderswo – Isländische Autoren in deutscher Übersetzung.
Linda Vilhjálmsdóttir erhielt für ihr literarisches Schaffen bereits vor der aktuellen Ehrung als „Europäischer Dichter der Freiheit“ zahlreiche Preise und Auszeichnungen, darunter 1993 den Literaturpreis der Tageszeitung DV und 2005 den Jón-úr-Vör-Poesiepreis. Für frelsi, ihre bislang letzte Lyrik-Publikation, wurde sie 2015 erneut mit dem Literaturpreis der Tageszeitung DV sowie mit dem Preis des Isländischen Buchhandels für den besten Gedichtband des Jahres ausgezeichnet; außerdem war sie mit frelsi für den Literaturpreis des Nordischen Rates 2017 nominiert.
Die Schilderung des zweiten, wenn auch auf andere Weise verursachten, so doch nicht minder schönen Glücksmoments in Sachen Literatur, das ich in den letzten Tagen erfahren durfte, werde ich natürlich niemandem vorenthalten. Versprochen! Es wurde, so viel sei hier schon einmal verraten, ausgelöst durch eine Publikation der San Marco Handpresse, doch um es gebührend zu teilen, brauche ich ein wenig mehr Zeit, als ich jetzt gerade habe. Ich bitte alle um ein wenig Geduld.
Wie heißt der autobiographische Roman von Linda V. und ist er auf Deutsch zu haben?
Gruß von Sonja
Liebe Sonja, dieser autobiografische Roman heißt im Original „Lygasaga“ – also so wie „Lügengeschichte“, aber übertragen ins Deutsche ist er m. W. nicht! Gute Grüße, Wolfgang
Danke Dir für diese Begegnung. Grüße aus dem Schorfheidewald von Petra
Danke für das Interesse und gute Grüße zurück, Wolfgang
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