Neue Kriminalromane aus Island
Auch wenn das Lesevergnügen nicht immer gleich groß war, ich hätte mir die letzten Tage des vergangenen Jahres nur schwerlich entspannter vorstellen können als mit der Lektüre dreier, recht aktuell erschienener Kriminalromane aus Island. In loser Folge möchte ich diese nun in kommenden Beiträgen vorstellen.
Im Oktober 2017 erschien mit Blindes Eis der dritte Roman der in Island inzwischen bereits weiter fortgeschrittenen Serie von Ragnar Jónasson mit Ari Þór Arason, dem Dorfpolizisten von Siglufjörður, als zentralem Charakter. Im Gegensatz zu seinen Vorläufern Schneebraut und Todesnacht, die als Hardcover im Scherz Verlag erschienen sind, ist es nun der Fischer Taschenbuch-Verlag, der dem deutschsprachigen Krimi-Fan die Lektüre ermöglicht.
Das ist natürlich nicht weiter von Bedeutung, irritierend ist nur, das sei doch angemerkt, dass die Übersetzung – wie seinerzeit durch Ursula Giger oder Tina Flecken geschehen – nun nicht mehr auf das 2012 erschienene Original zurückgreift, sondern sich einer späteren englischen Fassung bedient. Und das gänzlich ohne Not, denn dass es seit Jahren genügend gute Übersetzerinnen und Übersetzer aus dem Isländischen gibt, ist durch die Präsenz isländischer Literatur auf dem hiesigen Buchmarkt hinlänglich bewiesen.
Vielleicht ist es dieser aus meiner Sicht unschönen Praxis auch geschuldet, dass man sich häufiger etwas untypisch zum Dinner trifft oder sich nicht immer ganz sicher zu sein scheint, ob es sich bei einer Ansammlung von Wasser um einen See, eine Lagune oder einen Fjord handelt. Auch weiß man sich offensichtlich nicht so recht zu entscheiden, wie denn nun mit Eigennamen umzugehen sei: Während der Fjord Héðinsfjörður und andere zu Recht so geschrieben sind, wie sie nun mal heißen, wird der am ersteren geborene Héðinn zu Hédinn und auch seine Mutter Guðfinna sowie andere Personen (mit Ausnahme von Ari Þór) verlieren häufig ihre richtige isländische Schreibweise.
Die Geschichte selbst – sie findet auf zwei Ebenen und an zwei Orten statt: in dem Fischerdorf Siglufjörður im Norden Islands und in der Hauptstadt Reykjavík – sie ist von diesem Mangel an Sorgfalt und Konsequenz natürlich nicht berührt.
Weil im Krankenhaus von Siglufjörður ein Patient an Ebola gestorben ist, steht das Dorf unter Quarantäne. Niemand darf es verlassen, den Bewohnern ist gar dringlichst empfohlen, in ihren Häusern zu bleiben und jeglichen Kontakt mit anderen Menschen zu meiden. Allein der Polizist Ari Þór und sein Chef Tómas sind davon ausgenommen; sie wechseln sich stetig auf ihrer Wache ab und achten Tag und Nacht darauf, dass die getroffenen Maßnahmen eingehalten werden.
Auf einer seiner Wachen erhält Ari Þór allerdings Besuch vom bereits erwähnten Héðinn, der ihn bittet, einer alten Geschichte nachzugehen. Seine Eltern hätten in den fünfziger Jahren an der ansonsten unbewohnten Lagune vor dem benachbarten, doch schwer zugänglichen Héðinsfjörður vorübergehend einen Bauernhof gepachtet und bewirtschaftet, zusammen mit seinem Onkel Maríus und seiner Tante Jórunn, der Schwester seiner Mutter. Diese sei jedoch einige Zeit nach seiner Geburt gestorben – an Gift, das sie aus Versehen genommen habe, wie es hieß – doch wären die meisten, die davon erfahren hätten, überzeugt gewesen, dass es Selbstmord war …
Und er, Héðinn, wolle nun endlich wissen, wie und warum seine Tante tatsächlich gestorben sei! Ja, und ob es sich in Wahrheit nicht vielleicht sogar um Mord gehandelt habe? Und er berichtet Ari Þór von einem Familienfoto, das vermutlich von seinem Onkel aufgenommen worden und erst nun von Bekannten in der Hauptstadt entdeckt worden sei. Zu sehen seien darauf vor dem bäuerlichen Anwesen seine Tante, sein Vater, seine Mutter und er selber – allerdings auf dem Arm eines jungen Burschen, von dem weder er noch sonst jemand je etwas gehört habe! Wer ist dieser Kerl – und hat er vielleicht Schuld am Tod seiner Tante?
Ari Þór, der in dem unter der Quarantäne erstarrten Dorf nur wenig zu tun hat, verspricht, sich den damaligen Fall noch einmal anzuschauen. Unterstützung erhält er dabei von der Fernsehjournalistin Ísrún in Reykjavík (Leserinnen und Leser der Kriminalromane von Ragnar Jónasson kennen sie bereits …), die ihn wegen eines Interviews zur Lage in Siglufjörður kontaktiert. Ari Þórs Bericht über den alten Fall weckt jedoch auch ihre Neugier und so recherchiert sie für den Polizisten einige Spuren, die in die Hauptstadt führen.
Hier jedoch erfordern zugleich zwei andere Ereignisse ihr ganzes journalistisches Gespür und Können: Der abgehalfterte, drogenabhängige Musiker Snorri Ellertsson, Sohn eines angesehenen, einst mächtigen Politikers und ehemaliger Freund des jetzigen Ministerpräsidenten Marteinn, ist auf dem Weg zu einem Musikstudio tödlich überfahren worden. Und vom Fahrer des Todeswagens fehlt jede Spur.
Keine Spur gibt es auch von dem Baby, das seine Mutter Sunna vor dem Café, in dem sie sich kurz mit einer Freundin traf, wie in Island üblich schlafend im Kinderwagen gelassen hatte. Irgendwer musste das Kind entführt haben – und Róbert, Sunnas neuer Freund, auf den eine dunkle Vergangenheit zu lasten scheint, ahnt das Schlimmste …
Es ist gediegene Krimi-Unterhaltung, die Ragnar Jónasson dem Leser mit Blindes Eis serviert, mit etwas allzu verhaltener Spannung vielleicht und, abgesehen von den zentralen Protagonisten, gelegentlich mit Charakteren, die mehr dem Transport notwendiger Informationen zu den Fällen dienen, als dass sie wirkliches Profil erlangten.
Ein Pageturner, wie man so sagt, ist die Geschichte (so viel darf verraten werden …) um ein unfassbares Familiendrama, einen verzweifelten Racheakt und die üblichen politisch-intriganten Manöver also eher nicht – doch ist sie packend genug, dass man das Buch keinesfalls aus der Hand legen will. Dazu tragen auch das Ambiente bei, in dem die Fälle spielen, und die eher privaten Umstände ihrer zentralen Figuren – Ari Þórs erneute Annäherung an seine Freundin Kristín, die sich zuletzt im Streit von ihm getrennt hatte und nun in Akureyri lebt, sowie Ísrúns steter Kampf mit ihrem Redaktionsleiter und, weit existentieller, mit einer schweren Krankheit.
Gewidmet hat der Autor sein Buch dem Andenken seiner Großeltern, Þ. Ragnar Jónasson und Guðrún Reykdal. Auf den Aufzeichnungen seines Großvaters von Geschichten aus und über Siglufjörður, erschienen 1996 im Verlag Vaka-Helgafell, basiert die Schilderung der Reise einer Frau von Hvanndalir nach Héðinsfjörður im dritten Kapitel des Buches. Das Geschehen selbst ist laut Autor jedoch in allen Belangen frei erfunden. Unwahrscheinlich ist es dennoch noch lange nicht.
Danke für diese ausführliche Buchbesprechung!
Sehr lesenswert, besonders ……..
https://vitzliserben.wordpress.com/2018/01/02/relewanzen-180102-der-storch-wird-gebraten/#comments
Das ist ein wunderbarer Lesetipp für mich. Vielen Dank dafür und viele Grüße
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