Auflauf bei Leipziger Buchmesse – Fenstersturz zu Prag

Von echten und anderen Begegnungen

Blick aus meinem Hotel über Leipzig-Gohlis

Leserinnen und Leser meiner „Wortspiele“ wissen dies schon: nach dem Besuch der Buchmesse in Leipzig führt mein weiterer Weg so gut wie stets nach Prag. So auch in diesem Frühjahr – und längst schon hätte ich ein wenig darüber berichten wollen, doch nach meiner Rückkehr an den heimischen Schreibtisch sah ich mich erst einmal gefordert, ja, geradezu überfordert von den Dingen, die sich dort inzwischen zur zügigen Verarbeitung angesammelt hatten. Und als dieser Berg ein wenig abgetragen war, erhielt ich die traurige Nachricht vom Tod des isländischen Schriftstellers Sigurður A. Magnússon, mit dem ich viele Jahre in Freundschaft verbunden war. Da will man kein Bildmaterial sichten, nicht an das Skizzieren  doch zumeist vergnüglicher Erlebnisse denken, sondern allein an diesen Mann.

Heute aber bin ich wieder etwas offener für andere Erfahrungen und habe mir zu meiner besseren Erinnerung angeschaut, was ich denn an Aufnahmen zurückgebracht habe von meiner diesjährigen kleinen Leipzig-Prag-Kombinationsreise. Mit Blick auf die Messe ist interessant, dass ich offensichtlich vorwiegend frühmorgendliche, leere Verlagsstände fotografiert habe. Ich will jetzt nicht darüber nachdenken, ob dies eine tiefere Bedeutung hat (wie wachsender Überdruss angesichts des zu erwartenden Auflaufs in überfüllten Hallen, zunehmende Menschenscheu und so weiter…) – vielleicht ist es ja auch nur der Versuch gewesen, mir jene Verlags- und sonstigen Aussteller ein wenig ins Gedächtnis zu brennen, mit deren Repräsentanten ich später am Tage noch sprechen wollte. Bildunterschriften benötigen die Fotografien nicht – sie sprechen (pars pro toto) für sich selbst (und ein wenig auch für meine Vorlieben).

Ein paar Begegnungen gab es natürlich auch, zum Beispiel mit der Isländerin Auður Jónsdóttir, die auf dem Nordischen Forum in Halle 4 ihren autobiografischen Roman Wege, die das Leben geht (btb) vorstellte…

Auður Jónsdóttir

… und mit einer weiteren Isländerin, die ich an dem Ort, wo ich sie zufällig traf, nie und nimmer erwartet hätte: Yrsa Sigurðardóttir, die unbestrittene Queen unter den Kriminalschriftstellerinnen der Insel und mehr und mehr sehr weit darüber hinaus. Sie überraschte mich im Literischen Salon NRW bei der Vorstellung ihres letzten Thrillers DNA ( ebenfalls btb).

Yrsa Sigurðardóttir

Nun, erwähnen will ich auch noch „The Voice“, den Ehrenpreisträger 2017 des Preises der deutschen Schallplattenkritik Christian Brückner, dem ich nun endlich zu dieser Auszeichnung für sein exzellentes Interpretieren und Lesen bester Literatur auch persönlich gratulieren konnte; es war wie immer eine große Freude, mit ihm und seiner Frau Waltraut ein wenig zu plaudern.

Christian Brückner

Von doch manch weiteren Begegnungen, auch mit von mir sehr geschätzten Blogger-Kolleginnen und –Kollegen, will hier nicht weiter sprechen, ebenso nicht von den schönen Erfahrungen, die ich bei eigenen Veranstaltungen im Rahmen von Leipzig liest / Leipzig hört auf der Messe, in der Alten Handelsbörse und mit Sächsischen Psychiatriemuseum machen durfte – erwähnen will ich aber noch den Genuss der Abendsonne, die sich an den Tagen meines diesmaligen Leibzigaufenthalts über dem Gohliser Schlösschen zeigte.

In Prag war das Wetter nicht weniger schön, doch war ich diesmal familiär recht eingebunden, so dass sich nur wenige Möglichkeiten für ausgedehnte Streifzüge durch das Stadt- und Kulturleben auftaten.

Das Sommerschlösschen Hvĕzda

Neben einem kurzen Spaziergang in einem meiner dortigen Lieblingsparks, an dessen   Ende das Sommerschlösschen Hvĕzda steht, haben meine Frau und ich allerdings auch dem Prager Loreto einen Besuch abgestattet, einem barocken Gebäudekomplex auf dem Hradschin mit der Kirche Christi Geburt, gegenüber dem Czernin Palast, der ab 1928 (mit Unterbrechung während der deutschen nationalsozialistischen Besetzung) zunächst der Tschechoslowakischen Rebublik unter ihrem ersten Präsidenten Tomáš Garrigue Masaryk als Außenministerium diente und auch in der Tschechischen Rebublik heute noch Sitz dieses Ministeriums ist.

Das Prager Loreto

Ich würde dies sicherlich nicht so ausführlich erwähnt haben, wenn mich meine Frau auf der an dem Areal vorbeiführenden Straße Loretánská nicht auf etwas hingewiesen hätte, das mein Interesse an Literatur (und notabene an Menschen, die sie schaffen…) auf denkwürdigste Weise mit der Politik jener Zeit in Verbindung gesetzt hätte.

Die Straße Loretánská

Hier, am Haus Nr. 13 hängt eine Tafel, die Auskunft darüber gibt, dass die amerikanische Schriftstellerin Marcia Davenport von 1947 bis 1948 in diesem Gebäude gewohnt hat.

Die Tafel, die auf Marcia Davenport verweist

Ich gestehe, dass ich mit dem Namen Marcia Davenport auf Anhieb nichts verbunden habe; erst später, als ich wieder Zugriff auf das weltweite Netz hatte, kamen mit der Lektüre auch vage Erinnerungen: an ihre Mozart-Biografie, an die Verfilmung ihres Romans Das Tal der Entscheidung mit Gregory Peck, an den Roman East Side West Side; nichts allerdings verband ich mit dem noch 1967 im Winkler Verlag erschienenen autobiografischen Werk Stärker als Phantasie – Ein halbes Jahrhundert Literatur, Musik und Politik zwischen New York, Berlin und Prag.

Von einem nicht unbedeutenden Ausschnitt hieraus wusste jedoch meine Frau mir zu berichten.

Marcia Davenport war die Verlobte von Jan Masaryk, Sohn jenes ersten Präsidenten der Tschechoslowakischen Republik und in den Jahren 1925 bis 1938 Botschafter in Großbritannien. Als solcher musste er am 30. September 1938 hilflos miterleben, wie der  dortige Premierminster Neville Chamberlain und sein französischer Amtskollege Édouard Daladier unter Vermittlung Mussolinis Adolf Hitler die Eingliederung des Sudentenlandes in das Deutsche Reich zugestanden, ein folgenreiches Diktat, das recht verniedlichend als Münchner Abkommen in die Geschichte eingegangen ist und noch heute alle demokratischen Regierungen gemahnen sollte, weder Nachsicht mit Diktatoren und solchen Politikern, die alle Macht allein für sich beanspruchen, walten zu lassen, noch gar Verträge mit ihnen zu schließen, die deren Machtgelüste stabilisieren und rechtsstaatlich organisierte Gesellschaften erpressbar machen.

Jan Masaryk trat seinerzeit aus Protest gegen dieses Diktat von seinem Amt als Botschafter zurück, übernahm 1940 jedoch das Amt des Außenministers in der tschechoslowakischen Exilregierung. Dieses Amt übte er, wiewohl selbst kein Kommunist, auch noch unter der ersten Regierung des kommunistischen Ministerpräsidenten Klement Gottwald aus, fand jedoch am 10. März 1948 in der Folge des sogenannten Februarumsturzes, der die alleinige Herrschaft der Kommunistischen Partei  zum Ziel hatte, ein gewaltsames Ende.

Man fand ihn zu Tode geschmettert auf dem Boden unterhalb des Fensters seines Dienstzimmers im Czernin Palast. Ein weiterer Prager Fenstersturz.

Der Czernin Palast

Die genauen Umstände des Todes von Jan Masaryk sind bis heute ungeklärt. Eine erste, offiziell verbreitete Selbstmord-Theorie konnte niemanden überzeugen, es kursierte bald das Gerücht, dass die Ermordung aus Kreisen der Kommunistischen Partei in Auftrag gegeben worden sei. Eine Wiederaufnahme der Ermittlungen nach 1993 ergab dann auch eindeutig, dass er aus dem Fenster gestoßen worden sein musste, also tatsächlich ein Gewaltverbrechen vorlag. Die genauen Tatumstände und Motive blieben jedoch weiter unklar. Heute gibt es selbst Anhänger einer Spekulation, die amerikanische Geheimdienste involviert sehen will, ja, vielleicht sogar die Schriftstellerin Marcia Davenport selbst! Wie auch immer – sie hat nach dem Tod ihres Verlobten die Wohnung in der Loretánská 13, Prag und die Tschechoslowakei verlassen.

Vielleicht besorge ich mir demnächst das Buch oder den Film Das Tal der Entscheidung – es ist ja nicht auszuschließen, dass ich darin einen Schlüssel für eine bislag noch unbekannte Verschwörungstheorie, den Tod Jan Masaryks betreffend, entdecke.

 

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Über Wolfgang Schiffer

Literatur (und alles, was ihr nahe ist) ist m. E. eines unserer wichtigsten Nahrungsmittel. Also zehre ich von ihr und versuche, sie zugleich zu nähren: als Autor, als Übersetzer, als Vermittler und nicht zuletzt als Hörer und Leser.
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