Flieger stören Langschläfer

Das fulminante Debüt der Schweizerin Sabine Hunziker

Ein Flieger, der stört… Foto: Wolfgang Schiffer

Ein Flieger, der stört… Foto: Wolfgang Schiffer

Ich gebe zu, zu Beginn etwas skeptisch gewesen zu sein. Das Intro des Romans, des ersten überhaupt, den die 1980 in Bern geborene Autorin und freie Journalistin Sabine Hunziker veröffentlicht hat, ließ mich befürchten, dass das Folgende in die Nähe einer etwas gewollten Versuchsanordnung geraten könnte – schließlich lässt sich Judith, die Protagonistin der Geschichte von ihrem Professor davon überzeugen, parallel zu ihrer Dissertation ein Forschungstagebuch zu führen. Dieses soll die Absolventin der Religionswissenschaften durch die Einsamkeit ihres Daseins als Forscherin zur Bedeutung des Schattens im Alten und Neuen Testament begleiten, eines verlorenen Themas, wie sie selber weiß.

Großzügig unterstützt von einer katholischen Stiftung macht sie sich an die Arbeit.

Der Alltag, so stellt sie bald fest, verschwindet bald im Rücken, denn eine Analyse bietet nicht viele Anknüpfungspunkte zur Realität. Ab und zu sieht man den Professor, die Kassiererin jeden zweiten Tag im Supermarkt oder den Zahnarzt zur jährlichen Kontrolle. (…) Tag und Nacht unter dem Licht einer Leselampe über Bücher und Kopien gebeugt, mit zerknüllten Papierkugeln und einer Unmenge herumliegender Stifte, geht die akribische Suche los. Es vermischen sich aber nicht nur Abend und Morgen, sondern auch Forschung und Privatleben.

Und am Ende des Intros heißt es: Mein eigenes Leben ist mit der Forschungsfrage so verflochten, dass am Schluss beide Teile nicht mehr zu trennen sind.

Würde der Autorin, so meine Sorge, diese Symbiose tatsächlich gelingen? Wie viel und welches Leben würde sich in dieser Konstellation überhaupt erzählen lassen?

Nun, am Ende des Buches, dem Abspann, heißt es auch Ende des Forschungstagebuches und zuvor stehen die Sätze: Wir waren nicht unglücklich. Wir haben nur geschlafen und Flugzeuge bretterten über unsere Köpfe hinweg – nun sind wir aufgemacht.

Auch wenn ich immer noch rätsele, ob es sich bei dem letzten Wort des ansonsten so wohlfeil gemachten kleinen Buches (Hardcover, Titelbild, Lesebändchen…) des Wiener Septime Verlags um ein Satzfehler handeln könnte – aufgemacht versus aufgewacht – alles, was ich davor gelesen habe, hat mich begeisternd überzeugt.

Flieger stören Langschläfer

Was Sabine Hunziker über Judith, ihren (Ex-)Freund Abel, ihre neue Freundin, die an Schizophrenie erkrankte Agnes zu erzählen weiß – und vor allem, wie sie dies tut – ist brillant. Unangestrengt und stilsicher, leicht, lakonisch und bildstark kommen die Erlebnisse daher: das Zusammenleben Leben in einem Berner Abbruchhaus, das demnächst zu Luxuswohnungen kernsaniert werden wird – nicht immer mit Wasser, doch immer ohne Heizung – die kleinen Siege gegen Vermieter und Spekulanten, das Wechselspiel der Gefühle für- und gegeneinander, die Leidenschaften und psychischen Abgründe, die Schatten der Forschungsarbeit und eine reale Mondfinsternis und vieles aus ungewöhnlichen Leben mehr. Und derart treffend, dass sie einen geradezu verblüffen, sind oftmals die Vergleiche und Bilder, die Sabine Hunziker bei ihrem Erzählen findet, sei es für das Tableau der großen Emotionen oder die Beschreibungen von Orts- und Seelen- Zuständen.

Zwei beispielhaft zitierte Textstellen mögen einen Eindruck davon geben. Ihre Beziehung zu Abel reflektierend, sagt Judith:

Früher sind meine Gedanken wie eine anhängliche Katze hungrig nach Zärtlichkeit und Zuneigung um Abel herumgestreift. Katzen sind seltsame Wesen. Erst suchen sie die Liebe, aber dann entpuppen sie sich als Solitäre.

Und an anderer Stelle, das trotz der Medikamente immer wieder von Psychiatrieaufenthalten bestimmte Leben ihrer Freundin Agnes bedenkend, heißt es:

Wenn ich später mal Agnes nach einem der zig Rückfälle in der geschlossenen Abteilung besuchen werde, sehe ich, dass dort Krieg herrscht und die Leute da unter ihrer enormen freigelegten Energie leidend zittern und eine spezielle Aura erhalten haben, deren Farbe ich nicht einordnen kann. Sie waschen sich nicht mehr und einige sind mal aggressiv und dann wieder lieb. Die Internierten rauchen Kette und Aschenbecher quellen über.

In einer solchen Beschreibung – und ich bestätige gerne ihre Stimmigkeit, denn ich habe selber für viele Monate in der Psychiatrie gearbeitet, und auch wenn dies schon eine ganze Weile her ist, so weiß ich doch, dass sich bis auf den heutigen Tag nur wenig geändert hat – in solch trefflichen Bildern wird Empathie zu Literatur.

Ein letztes noch, das mich so positiv gestimmt macht über diesen kleinen Roman: er handelt trotz aller Widrigkeiten im Leben seiner Charaktere auf ganz ernsthafte Weise vom Glück. Er spielt Vorstellungen durch, die man davon haben kann, und zeigt Möglichkeiten auf, durchaus auch alternative zu einem gewöhnlichen Leben, die dennoch ein glückliches Leben ausmachen können.

Viele Menschen haben eine falsche Vorstellung vom Paradies. Sie denken an wilde Tiere, die einander nicht fressen und in Frieden miteinander leben. Der Tiger küsst das Kaninchen. Aber wenn jemand gegen die Regeln verstößt, wird er für immer aus dem Garten vertrieben in eine Wüste Welt. Die Wirklichkeit ist aber, dass man bereits im Paradies lebt – auch wenn manchmal Dinge passieren, die unschön sind – man merkt es oder man merkt es nicht. So ist das.

Für mich ist Sabine Hunziker mit ihrem Roman Flieger stören Langschläfer eine Entdeckung; ich hoffe, noch manches von dieser Schriftstellerin lesen zu können.

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Über Wolfgang Schiffer

Literatur (und alles, was ihr nahe ist) ist m. E. eines unserer wichtigsten Nahrungsmittel. Also zehre ich von ihr und versuche, sie zugleich zu nähren: als Autor, als Übersetzer, als Vermittler und nicht zuletzt als Hörer und Leser.
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11 Antworten zu Flieger stören Langschläfer

  1. mickzwo schreibt:

    Besonders hat mit das Zitat mit den Katzen beeindruckt. Ich glaube das Buch interessiert mich. Danke.

  2. hafenmöwe schreibt:

    Danke für die Beschreibung, Die Sätze der Autorin über Katzen, Psychiatrie und das Paradies sind schön schlicht, ich werde mir das Buch sehr gerne und bald zulegen.

    • schifferw schreibt:

      Natürlich gern geschehen! Auf Bücher, die einen beeindrucken, weist man eben auch gerne hin!

  3. Christian Wendling schreibt:

    Dank für den interessanten Tipp! Nun bin ich neugierig auf mehr.

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  6. wildgans schreibt:

    Ganz oben in Ihrer feinen Besprechung steht „verlorenes Thema“, und ich überlege mir, woher man weiß, dass irgendetwas ein verlorenes Thema ist – wird das im Buch näher beschrieben?
    Ihre Zeilen regen zum Lesen an!

    • schifferw schreibt:

      Danke fürs schöne Aufmerken! Ja, wenn ich es recht erinnere, nennt die Protagonistin ihr Thema selber so! Grundsätzlich gebe ich der ihrer Fragestellung impliziten Antwort aber recht: man weiß es nicht, zumindest nicht vorab!

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