Albert Vigoleis Thelen – ein „Unzeitgemäßer“?
Nein, der Gebrauch des Wortes „unzeitgemäß“ im obigen Zusammenhang ist ursprünglich nicht von mir. Vielmehr gab es am 3. und 4. Juni dieses Jahres eine Tagung des Instituts für Germanistik der Universität Duisburg-Essen, die sich den Titel Im Abseits der Gruppe 47 – Albert Vigoleis Thelen und andere „Unzeitgemäße“ im Literaturbetrieb der 1950er und 60er Jahre gegeben hatte. Ausgehend von der These, dass die Dominanz der Gruppe 47 auf dem deutschen Literaturmarkt die Entfaltung „abseitiger“ Themen und Autoren wie Autorinnen der genannten Jahre nachhaltig eingeschränkt habe, insbesondere Autoren der Emigration, aber auch Vertreter humoristischen Schreibens (neben Albert Vigoleis Thelen, auf den zweifellos beides zutrifft, sind u. a. Wolf von Niebelschütz, Fritz von Unruh, Oskar Maria Graf, Gregor von Rezzori und Grete Weil genannt), waren Literaturwissenschaftler aus Deutschland, der Schweiz und den USA zusammen gekommen, um den verschiedenen Gründen hierfür nachzugehen und den Platz der genannten Autorinnen und Autoren in der Geschichte der deutschen Nachkriegsliteratur neu zu bestimmen.An der Tagung selbst (seinerzeit mehr oder weniger frisch handverletzt und vernäht…) konnte ich nicht teilnehmen, wohl aber hatte ich das ehrenvolle Vergnügen, einen Part beim öffentlichen Abendprogramm des ersten Tagungstages zu übernehmen. Der Thelen-Forscher Jürgen Pütz und der Publizist Ulrich Faure, der sich wie kaum ein anderer in der deutschen Exilliteratur auskennt, erzählten hier auf der Basis der von ihnen herausgegebenen, 2010 im DuMont Verlag erschienenen Briefe des Schriftstellers über dessen und seiner Frau Beatrices Leben – und ich durfte ausgewählte Briefe und einige Passagen aus Thelens Hauptwerk Die Insel des zweiten Gesichts lesen, letztere natürlich aus der 1953 im Eugen Diederichs Verlag erschienenen Erstausgabe!
Meine Heimat bin ich selbst heißt die Briefsammlung; ebenso umfangreich wie aufschlussreich kommentiert, umfasst sie Briefe von 1929 bis 1953 – es sind, so auf dem Covertext des 500 Seiten starken Buchs zu lesen, Exilbriefe, Alltagsbriefe, Hoffnungsbriefe, Verzweiflungsbriefe, Bettelbriefe, Werbebriefe, Sprachwitzbriefe und „Insel“-Briefe, geschuldet seiner Flucht vor den Nazis auf die Insel Mallorca und sein Ringen um eine Veröffentlichung seines von der Insel und dem Dasein im Exil Zeugnis gebenden Romans.
Von höchstem Interesse sind die Briefe jedoch wohl nicht nur für den eingefleischten Thelen-Forscher; über das Kennenlernen des bewegenden Schicksals dieses Schriftstellers hinaus, das sich in ihnen dokumentiert, dürfte selbst der „normale“ Literaturkonsument seine helle Freude haben an der stilistischen Raffinesse des Autors, seiner Wortakrobatik, dem Sprachwitz und der Sprachmacht sowie den literarischen Feuerwerken, die er damit auch in seiner Korrespondenz zu zünden weiß.
Ich sage es gerne immer wieder: es lohnt wirklich, das Werk dieses 1903 in Süchteln am Niederrhein (und damit ganz in der Nähe meiner Heimatstadt Nettetal/Lobberich) geborenen Sprachschwelgers und Wortartisten für sich zu entdecken oder, falls dies längst geschehen ist, erneut zu lesen: seine Prosa, seine Briefe und nicht zuletzt auch – seine Gedichte. „Unzeitgemäß“ scheint mir davon nichts zu sein!
Neben meinem Bett liegt seit der Tagung in Essen jedenfalls erneut sein Gedichtband Vigolotria (natürlich in der Erstausgabe von 1954), und da ein größerer, sein pralles Erzählen zeigender Ausschnitt aus z. B. dem Roman Die Insel des zweiten Gesichts diesen Beitrag leicht „sprengen“ würde, begnüge ich mich an dieser Stelle mit einem nicht weniger sprachgewitzten Gedicht aus eben diesem Band.
Vorsommer
Der Mohn klatscht mit dem roten Maul,
im Feld verwest ein toter Gaul,
Libellen schwirren durch die Luft,
Vergiß-mein-nicht die Liebste ruft.Vergiß-mein-nicht am Wege blüht,
die Grille zirpt ihr Liebeslied,
das Herz schnürt mir die Kehle zu –
verreckter Gaul, ach wär ich du.Verreckter Gaul, vergiß mein nicht,
klatsch roter Mohn mir ins Gesicht
und treibe mir die Grillen aus,
sonst ende ich im Irrenhaus.
In Süchteln, Thelens Geburtsort, gab es ein solches „Irrenhaus“ übrigens tatsächlich (jedenfalls wurde es von den meisten Einheimischen so genannt, und dies sogar noch in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre, als ich dort für mehrere Monate als Hilfspfleger tätig war…); in die Nähe seines Geburtsortes am Niederrhein kehrte Albert Vigoleis Thelen nach langen Fluchten vor dem Nazi-Deutschland durch weite Teile Europas auch zurück. Er starb 1989 in Dülken.
Alles weitere, das nun ein jeder, eine jede, über diesen Schriftsteller wissen möchte, findet sich auf der Seite Albert Vigoleis Thelen – Dichter und Autor.
PS: Vollständig zitiert lautet die Titelzeile übrigens: Dichter sind die Büchsenöffner ihrer Innenwelt: Manchen schwinden schon die Sinne, wenn der Deckel fällt.
Ich wünsche viel Vergnügen!
Ach, die Insel des zweiten Gesichts!
Ein Roman, den ich ohne meinen einstmaligen Buchhändlerkollegenmentor wohl nie gelesen hätte … Ein Buch, das mächtig in Erinnerung bleibt!
Ja- verdienter Weise! Ein großer Roman! Maarten´t Hart soll gesagt haben“ Seit Langem glaube ich: Das größte Buch dieses Jahrhunderts ist „Die Insel des zweiten Gesichts.“
Da hat Maarten t`Hart (fast) recht – das größte Buch, da hab ich immer so meine Bedenken, es gibt immer mehrere größte Bücher – aber ich würde zustimmen zu „Das größte (unbekannte) Buch dieses Jahrhunderts“. Das Cover der Gedichte-Erstausgabe sieht toll aus – irgendwie schon nach 50erJahren, aber zugleich sehr modern und passend auf diesen „Wortakrobaten“. Ein Unvergleichlicher.
Liebe Birgit, geschätzte „Sätze und Schätze“ – Du sagst es: es gibt stets mehrere „größte“ Bücher, und ein „Unvergleichlicher“ ist der gute Vigo auch! Und das mit dem (relativ) Unbekannten seines Romans, seines Werks überhaupt, lässt sich doch ändern, oder?
Gute Grüße nach Augsburg!
Für mich ist „die Entdeckung des Himmels“ von Harry Mulisch ein ebenso größtes Buch des letzten Jahrhunderts…, das laufende ist ja noch nicht alt *g*
Liebe Sommergrüße
vom Lu