Der erinnerungslose Patient

Zu Carl Nixons Roman Lucky Newman

Vielleicht Glück... Foto: Wolfgang Schiffer

Vielleicht Glück… Foto: Wolfgang Schiffer

Die nachfolgende Rezension erschien erstmals in der Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik die horen, genauer gesagt, in dem im letzten Quartal des letzten Jahres veröffentlichten Band 260 – gerne habe ich seinerzeit unter Verwendung seines Titels Buden. Lichter. Volk hier in einem Beitrag auf diese von mir sehr geschätzte Literaturzeitschrift aufmerksam gemacht.

Und weil der Roman, dessen Besprechung ich dort also veröffentlichen konnte, mir als Lesestoff derart vergnüglich in Erinnerung geblieben ist und ich ihm (wie natürlich auch den horen selbst) viele Leserinnen und Leser wünsche, erlaube ich mir nun (natürlich im Einvernehmen mit der Redaktion der Zeitschrift), ihn in meinen „Wortspielen“ ebenfalls vorzustellen.

„Es gibt Romane, Erzählungen, Geschichten, da ahnt man als Leser bereits nach einem der ersten Sätze, dass sie einen in einen intensiveren Leserausch versetzen werden als manch andere … Eine solche Ahnung jedenfalls hatte ich, als ich schon im ersten Absatz des ersten Kapitels in Carl Nixons jüngst ins Deutsche übertragenem Roman den Satz las:

Meine Mutter hat sich unsterblich in einen Mann ohne Gedächtnis verliebt.

Selber erfunden will der neuseeländische Autor, dessen erzählerisches Können uns durch seine vorherigen Publikationen Rocking Horse Road (2012) und vor allem Settlers Creek (2013) längst bekannt ist, den Satz allerdings nicht haben; er sei ihm vielmehr telefonisch von einem Herrn, der jüngst einen seiner eben genannten Romane gelesen habe, übermittelt worden, beharrlich verbunden mit der Bitte, er, der Autor, möge doch die Geschichte seiner Familie schreiben.

Ob dem, ebenso wie die folgenden Treffen, bei denen der Anrufer dem Autor die Geschichte seiner Eltern in Einzelheiten erzählt und mit Materialien, Fotos und Briefen usw. belegt haben will, tatsächlich so ist, oder ob Carl Nixon diesen Anfang, wie er es nennt, erfunden hat, spielt zum Glück keine Rolle: In 58 folgenden, mal längeren, mal kürzeren Kapiteln, erzählt er uns eine fesselnde Geschichte, welche die Geschichte der Eltern des Mannes sein könnte. Und er erzählt uns eine Geschichte, über das Erzählen dieser Geschichte. Und noch eine weitere – doch davon etwas später.

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Die Geschichte der Eltern des Mannes geht in etwa so: Im Mai des Jahres 1919 lebt Elizabeth Whitman mit ihrem Sohn Jack bei ihren Eltern in Mansfield, einem beschaulichen Städtchen in einer britischen Kronkolonie. Als Krankenschwester kümmert sie sich um die Kriegsversehrten des Ersten Weltkriegs, die Verletzten und Traumatisierten; ihr eigener Mann, Jacks Vater, ist noch nicht heimgekehrt, seit bereits zwei Jahren gilt er als vermisst. Ihr herausragender Ruf als Krankenschwester, gegründet auf einem professionell distanzierten Verhältnis zu ihren Patienten, veranlasst die angesehene und wohlhabende Mrs. Blackwell, Elizabeth um die persönliche Pflege ihres Mannes Paul zu ersuchen. Dieser erlitt im Krieg eine Kopfverletzung, erwachte, wer weiß wie lange später, inmitten eines Leichenbergs – nennt sich seither Lucky (so werden ihn wohl die Kameraden genannt haben, als sie ihn fanden) und erinnert sich an nichts, was vor diesem Zeitpunkt lag, erst recht nicht an seine Frau. Elizabeth soll helfen, die Erinnerungen an sein früheres Leben zurückzubringen.

Nach einigem Zögern sagt Elizabeth zu. Sie trifft auf einen verwahrlosten und aggressiven Mann, untergebracht in einem Zimmer im Obergeschoss des herrschaftlichen Anwesens der Blackwells, in dem stets das Kaminfeuer brennen muss, damit er nicht friert. Und damit er nicht davonläuft, hat man ihn an das Bett angekettet, unter dem er die Konserven hortet, aus denen er sich ausschließlich ernährt. Jedwede Annäherung eines anderen Menschen weist er aufs Heftigste zurück.

Was sich von dieser ersten Begegnung an nun weiterhin entwickelt, ist ebenso unvorhersehbar wie intensiv. Dabei bleibt Carl Nixon vom Beginn bis zum Ende seines Berichts in Kontakt mit dem Leser; er bezieht ihn ein in sein Erzählen, indem er ihm z. B. erklärt, warum und wie er Spannung erzeugt:

Es liegt im Interesse des Geschichtenerzählers, dem Leser den Mund wässrig zu machen – und genau deshalb lasse ich zumindest eine Zeitlang alles in der Schwebe.

Oder indem er auf das ihm (vielleicht tatsächlich) zur Verfügung gestellte Material verweist und, über Alternativen der Interpretation spekulierend, einen möglichen weiteren Verlauf der Geschichte andeutet:

Es ist also an mir, dem Chronisten dieser Geschichte, zu entscheiden, was wann wie passiert ist. Es gibt viele Möglichkeiten. Vielleicht war es eine langsame Erkenntnis für Elizabeth, Tag für Tag, den sie mit Lucky verbrachte, ein bisschen mehr, wie stete Tropfen, die in ein Gefäß fallen, bis es überläuft. Liebe kann auch plötzlich geschehen; ein Tag, ein bestimmter Moment, in dem es einen Blick, eine Berührung gab, wonach ihr bewusst war, dass ihre Gefühle unwiderruflich waren. Irgendwann werde ich mich für eine der Möglichkeiten entscheiden müssen.

Und am Ende des Buches, das hier über die den Zitaten immanenten Andeutungen hinaus natürlich nicht verraten wird, heißt es:

Genug. Jedes Ende ist willkürlich. Wie um alles in der Welt soll man auch wissen, wann eine Geschichte wirklich zu Ende ist?

Auf Lucky Newman trifft diese Frage in ihrer Umkehrung auf jeden Fall zu: der Roman wirkt im Leser noch lange nach, und das nicht nur, weil er ihm stilistisch gefeilt und ebenso präzise wie einfühlsam Gräuel und Leidensgeschichten vor Augen führt (die ihn womöglich sogar zu einem Nachdenken über sich selbst, über das, was ihn ausmacht, wie man ihn sieht usw., anhalten), sondern vor allem, weil er auch von der Kraft spricht, der Leichtigkeit und Heiterkeit, die sich den Gräueln und Leiden im Erzählen von Geschichten entgegenstellen.
Hierzu trägt nicht zuletzt auch die dritte Geschichte bei, vom dem das Buch in immer wieder eingestreuten Kapiteln erzählt: das Märchen von einem Ballonfahrer, der seine Familie verlässt und mit einem schlauen Tiger als Gefährten fantastische und gefährliche Abenteuer besteht. Elizabeth erzählt dieses Märchen ihrem vierjährigen Sohn; allabendlich vor dem Einschlafen erfindet sie eine weitere Episode für ihn, ganz ohne Zweifel in der Absicht, ihn so über die Abwesenheit des Vaters hinwegzutrösten und vielleicht sogar vorzubereiten auf die Nachricht des Todes, den endgültigen Verlust …“

Carl Nixon | Lucky Newman | aus dem Englischen von Stefan Weidle und Ruth Keen | Weidle Verlag | Bonn 2015

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Über Wolfgang Schiffer

Literatur (und alles, was ihr nahe ist) ist m. E. eines unserer wichtigsten Nahrungsmittel. Also zehre ich von ihr und versuche, sie zugleich zu nähren: als Autor, als Übersetzer, als Vermittler und nicht zuletzt als Hörer und Leser.
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