Dichtung von der Insel aus Feuer und Eis (42)

Meine Reise durch die isländische Poesie

Sechs aktuelle Gedichtbände in Island

Sechs aktuelle Gedichtbände in Island

Das heutige Beispiel meiner lose in die „Wortspiele“ eingestreuten Streifzüge durch die zeitgenössische Dichtkunst Islands ist von einem Schriftsteller, den die Atomdichter des Landes, die Modernisierer der in ihren Regeln erstarrten isländischen Poesie, über die ich hier bereits mehrfach berichtet habe, noch zu ihren Lebzeiten als einen ihrer Nachfolger im Geiste angesehen haben.

Auch er selbst, da gibt es keinen Zweifel, sieht sich klar in ihrer Traditionslinie, ja, ist wie viele andere seiner Generation davon überzeugt, dass es das unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzende Wirken jener Erneuerer war, das eine Lyrik ermöglicht hat, wie sie heute in vielfältigen Facetten und Stimmen in Island entsteht und veröffentlicht wird.

Derzeit (s. oben) liegen auf meinem Schreibtisch allein aus diesem Jahr wieder sechs aktuelle Neuerscheinungen – von Linda Vilhjálmsdóttir, Ragnar Helgi Ólafsson, Einar Ólafsson, Sveinn Yngvi Egilsson, Sjón und sogar dem Sänger und Liedermacher Bubbi Morthens – und es sind bei weitem nicht alle, die in 2015 in dem gerade mal etwa 330.000 Einwohner zählenden Inselland erschienen sind.

Der Schriftsteller von dem ich spreche, heißt Sigurður Pálsson. Siggi, wie ihn seine Freunde in Island nennen, wurde 1948 in Nordisland geboren; er studierte französische Sprache und Literatur in Toulouse und an der Sorbonne in Paris, ebenso Theaterwissenschaften und Filmregie. Seit seiner Rückkehr nach Island in 1975 ist er als Dozent an Theater- und Schauspielschulen tätig, arbeitet als Journalist und bei Film und Fernsehen.

Vor allem aber veröffentlichte er seit seinem 1976 erschienenen lyrischen Debüt Ljóð vega salt / Gedichte in der Waage zahlreiche weitere Gedichtbände, Romane, Theaterstücke, Fernseh- und Radiomanuskripte sowie Übersetzungen, insbesondere aus dem Französischen – Veröffentlichungen, für die er zahlreiche literarische Ehrungen und Auszeichnungen erhielt, u. a. in 2007 den Isländischen Literaturpreis und ein Jahr später die Auszeichnung Chevalier de l´Ordre du Mérite für seinen Beitrag zur Verbreitung französischer Kultur in Island.

Leider ist sein Werk, anders als insbesondere in Frankreich, aber auch in weiteren Sprachräumen, hierzulande kaum übersetzt und publiziert – meines Wissens hat ihn allein die Literaturzeitschrift die horen gelegentlich vorgestellt, zuletzt in dem Band über Islands Atomdichter Bei betagten Schiffen.

Island als Wandgemälde  - Foto: Wolfgang Schiffer

Island als Wandgemälde – Foto: Wolfgang Schiffer

Persönlich getroffen habe ich Sigurður Pálsson das letzte Mal 2013 – der Grund war eine Radioarbeit über eben jene Atomdichter, für die ich damals historische Aufnahmen recherchiert und Gespräche geführt habe. Bei einem solchen Gespräch, in dem sehr schönen, in einer Quergasse zu Rekjavíks Flaniermeile Laugavegur gelegenen Kaffi Rosenberg, war es auch, dass ich Siggi fragte, welche Bedeutung die Atomdichter für ihn und seine Generation gehabt hätten – und ob sie auch heute noch von Bedeutung seien. Er zögerte damals mit seiner Antwort keinen Augenblick.

Ob sie heute noch Bedeutung sind? Ganz klar. Völlig. Ich finde sogar, je mehr Jahre vergehen, desto mehr nimmt ihre Bedeutung zu. Sie sind die Männer, die im Grunde genommen alles erneuert haben. Einige haben es sogar eine Revolution genannt. Und wenn man bedenkt, dass es sich hierbei um eine radikale Erneuerung der Gedichtsprache handelte, die, ich sage nicht, 1000 Jahre lang gleich gewesen ist, aber die sich doch schon sehr lange nicht geändert hatte, dann war es in gewisser Weise auch eine Revolution! Die Dichtung war wirklich durchsetzt von Klischees und in vielerlei Hinsicht veraltet, gemessen an der neuen Zeit und den neuen Empfindungen, den neuen Bedingungen in der isländischen Gesellschaft. Wir sind ja aus einer bäuerlichen Gesellschaft entstanden, und dann schmeißt man uns Mitte der 1940er Jahre in das tiefe Wasser der Moderne. Und dann kommt diese Gruppe junger Männer, diese Gruppe um Birtingur, also die, die man die Atomdichter nennt. Das sind zwar extrem unterschiedliche Dichter – Einar Bragi, Jón Óskar oder Hannes Sigfússon, nun, oder Stefán Hörður Grímsson und Sigfús Daðason – jeder von denen hat seine eigene Stimme. Aber gemeinsam waren sie alle dabei, die bisherige Gedichtsprache auf den Kopf zu stellen. Und das ohne Applaus. Man betrachtete sie ja als Saboteure. Man hat sie ausgelacht und verspottet, und alles, was sie angingen, stieß auf einen extrem großen Widerstand. Da war eine unglaubliche Aggressivität. Wenn man die Zeitungen um 1950 liest, so könnte man denken, das seien Terroristen! Aber die haben das ausgehalten und haben weiter gemacht, und dann kam die nächste Generation, die im Grunde genommen dieses Geschenk von ihnen erhielt… Ja, meine Generation bekam dies als Geschenk… Sie haben den Anfang gemacht, die schwierigste Arbeit geleistet – unsere Arbeit war es, sie fortzusetzen.

Cover einer frühen Ausgabe der Zeitschrift Birtingur

Cover einer frühen Ausgabe der Zeitschrift Birtingur

Sigurður Pálsson weiß – wie noch manch andere in Island – es jedoch nicht nur zu schätzen, durch die Leistung der Atomdichter zu einer eigenen poetischen Sprache und deren Entwicklung gefunden zu haben – er wurde sogar von einem ihrer Vertreter entdeckt, nämlich von Einar Bragi. Dieser hatte 1953 zusammen mit Jón Óskar die bereits erwähnte Zeitschrift Birtingur gegründet, die vom ersten Tag an bis zu ihrer Einstellung in 1968 das Sprachrohr des Modernismus in Island war, nicht nur in der Literatur, sondern vor allem auch – wie allein schon wie nachfolgend manche Buchcover und –gestaltungen aus der damaligen Zeit belegen können – in der aufblühenden Bildenden Kunst.

Jon Oskar - Skrifad i vindinn.Cover Sigfus Dadason - Ljod 1947-1951.Cover

Für den damals 17-jährigen Sigurður Pálsson muss es wie ein Ritterschlag gewesen sein, als Einar Bragi in dieser bedeutenden Zeitschrift vier seiner Gedichte veröffentlichte, darunter auch das Gedicht Biografie, das ich hier in meiner zusammen mit Jón Thor Gíslason erarbeiteten Übertragung zitiere. Zuletzt veröffentlicht wurde die Übertragung in der aktuell in der Silver Horse Edition erschienenen Anthologie mit isländischer Lyrik und Kurzprosa Am Meer und anderswo.

Biografie

Jung
wurde ihm beigebracht
mit Heu richtig umzugehen
und Gottes Gaben nicht zu fluchen

Er war ein legitimer Nachkomme
der Erde
und ihr Liebhaber zugleich:
Er verbarg in ihrem Schoß
Kampf und Geheimnis
Leben

Und manchmal während der kurzen Tage
wenn der kühle Glanz des Schnees
sich auf die Fenster legte
wie ein Bote unendlicher Weiten und Trauer
zog er ein altes Foto hervor
und das gelbe Licht der Öllampe
füllte das Zimmer mit stillem Gram

Und bei seiner Beerdigung war es als ob
bleiche Gespenster sich rührten
wie ein flackerndes Licht von Öl
oder ein altes Foto
seit langem vergessen von jedermann

Illustration von Hörður Ágústsson zu Einar Bragis Gedichtband regn í maí / Regen im Mai, 1957 – Die Abbildungen der Buchcover und dieser Illustration sind dem Band „Bei betagten Schiffen – Islands Atomdichter“ entnommen, die horen, 2011

Illustration von Hörður Ágústsson zu Einar Bragis Gedichtband regn í maí / Regen im Mai, 1957 – Die Abbildungen der Buchcover und dieser Illustration sind dem Band „Bei betagten Schiffen – Islands Atomdichter“ entnommen, die horen, 2011

Zum Schluss als PS noch ein Wunsch: So wie Einar Bragi seinerzeit den jungen Sigurður Pálsson entdeckte, so möge doch, dies wäre mein Wunsch, heute ein deutschsprachiger Verlag den gereiften entdecken – für sich und für uns, die Leser.

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Über Wolfgang Schiffer

Literatur (und alles, was ihr nahe ist) ist m. E. eines unserer wichtigsten Nahrungsmittel. Also zehre ich von ihr und versuche, sie zugleich zu nähren: als Autor, als Übersetzer, als Vermittler und nicht zuletzt als Hörer und Leser.
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7 Antworten zu Dichtung von der Insel aus Feuer und Eis (42)

  1. mannigfaltiges schreibt:

    Möge Dein Wunsch in Erfüllung gehen!

  2. Angelika Schramm schreibt:

    Ich bin immer wieder begeistert, wenn ich über diese Zeit lese, in der eine neue Art zu dichten eine Revolution darstellte, die bis heute nachwirkt. Da kann man ganz sehnsüchtig werden. Und sich mehr Island bei uns wünschen. Vielen Dank, lieber Wolfgang. Ich kenne nur den Inhaber eines sehr kleinen Verlages, aber ich werde mich an ihn wenden, wenn das in Deinem Sinne ist.

    • schifferw schreibt:

      Natürlich, liebe Angelika, Hauptsache es ist im Sinne des Autors! Und damit kein Missverständnis aufkommt – ein solches Projekt wäre natürlich völlig frei, was die Übersetzung betrifft… Ich muss nicht dabei sein. Es gibt viele gute Übersetzerinnen und Übersetzer aus dem Isländischen! In dem Sinne wünsch ich eine schöne Woche, Wolfgang.

  3. finbarsgift schreibt:

    Immer wieder verblüffend:

    wie schafft es ein solch kleines Land bloß
    literarisch gesehen zu sein so groß…

    liebe Herbstgrüße
    vom Lu

    • schifferw schreibt:

      Ja! Die Literatur ist eben seit jeher die wichtigste Kunstform dieser Menschen! Alles andere sind „sonstige“ Künste. Aber – im Vertrauen – die Musik holt allmählich auf! Liebe Grüße zurück, Wolfgang

  4. Pingback: Im Nachhinein… | Wortspiele: Ein literarischer Blog

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