Erzähle mir ein Märchen, Vater…

Der Lyriker Dinçer Güçyeter und ein Gespräch über Anatolien, Heimat und Sprache

Der Lyriker Dinçer Güçyeter im Gespräch mit Monika Littau © Wolfgang Schiffer

Der Lyriker Dinçer Güçyeter im Gespräch mit Monika Littau © Wolfgang Schiffer

Gelesen hatte ich einige Gedichte von ihm bereits, aber bei einer seiner Lesungen persönlich erlebt habe ich Dinçer Güçyeter erstmals vorgestern beim Festival der multikulturellen Literatur in NRW, das vom 31. August bis gestern in Köln im Forum des Volkshochschule im Rautenstrauch-Joest-Museum Station machte.

Ich muss gestehen, dass derlei „korrekte“ Festival-Titel auf mich in der Regel eher ab- und ausgrenzend als einladend wirken – die Unterzeile Sprachwechsel und Dynamik des Literarischen versprach da schon ein sinnlicheres Erfahren von Literatur, aber auch sie schien nicht allzu viele Gäste angelockt haben zu können: mein Eindruck war (und ein weiterer Besuch am gestrigen Abend hat dies bestätigt…), dass Buchhändler, Autoren und Moderatoren in dem großräumigen Festivalsaal leider ziemlich unter sich bleiben mussten.

Nun, woran auch immer es gelegen haben mag, dass nur recht wenig Publikum der dreitägigen vom Verband deutscher Schriftsteller NRW in Kooperation mit der Volkshochschule Köln ausgerichteten Veranstaltung beiwohnte, auf der sich aus Spanien, Russland, aus Peru, Mazedonien, Ungarn, Montenegro, aus Kurdistan und der Türkei usw. stammende Schriftstellerinnen und Schriftsteller vorstellten – sie alle hätten wirklich eine auch zahlenmäßig größere Aufmerksamkeit verdient – vom Auftritt Dinçer Güçyeters jedenfalls hatte ich, wenn auch eher zufällig, erfahren und wollte ihn auf keinen Fall missen.

Die Gründe dafür sind zumindest dreifach.
Ich wollte den Dichter kennen lernen, der uns Wörter wie Wolke, Stern, Wunde, Wurzel, Herz, Dorn – Wörter, die der deutschsprachige Lyriker (und Leser) gemeinhin längst in eine Kitschecke verbannt hat – in seinen Gedichten mit verblüffender Furchtlosigkeit als Ausdruck einer Unbedingtheit und großen melancholischen Sinnlichkeit erfahren lässt.

Auch wollte ich etwas mehr über den Menschen wissen, der nicht nur Gedichte schreibt, sondern auch Theaterstücke, der als Regisseur und Schauspieler arbeitet, und als sei dies alles noch nicht genug, 2012 einen Verlag gegründet hat, den Elif Verlag, in dem neben seinen zunächst veröffentlichten eigenen Gedichten inzwischen mehrere Lyrik-Anthologien und Einzelbände anderer Schriftstellerinnen und Schriftsteller erschienen sind: von Gülbahar Kültür, Christoph Danne, Arndt Kremer, Anke Glasmacher und anderen…

Und zu guter Letzt wollte ich wahrscheinlich ein paar Erinnerungen austauschen, denn – so viel wusste ich schon über ihn – als Kind anatolischer Eltern ist er in dem Ort am Niederrhein geboren, in dem auch ich zur Welt kam – im Gegensatz zu mir lebt Dinçer Güçyeter mit seiner Familie dort allerdings immer noch: in Nettetal, genauer, in Lobberich.

Dinçer Güçyeter liest... © Wolfgang Schiffer

Dinçer Güçyeter liest… © Wolfgang Schiffer

In dem der Lesung einiger Gedichte aus den bislang veröffentlichten Bänden ein glas leben und anatolien blues folgenden Gespräch mit Monika Littau, die den Autor zuvor natürlich bereits vorgestellt hatte, offenbarte sich zumindest ansatzweise so manches, das die Melancholie, die durch viele seiner Texte weht erklärt.
So erfuhr man unter anderem:

– dass er erst spät zur deutschen Sprache, vielleicht zur Sprache überhaupt, gekommen sei,
– dass ihn eine tief religiös empfindende, schweigsame Mutter vom Vater fern zu halten suchte, weil sie unter dessen Lebensstil- und Wandel litt (der Vater betrieb zuletzt ein Lokal, das ich aus meiner Jugend unter dem Namen „Seeklause“ erinnere…),
– dass dieser Vater selbst sich ihm erst geöffnet habe, als er dem Sterben nahe kam,
– dass ihm dessen Erzählungen die Sehnsucht nach den Wurzeln seiner Familie entfachte und zugleich die Sehnsucht nach dem Leben hier,
– dass es schließlich die Poesie anderer gewesen sei, die seine eigene Kreativität geweckt habe und ihn im eigenen Denken und Schreiben dem steten Zwiespalt zwischen zwei Welten, von denen er sich keiner in Gänze zugehörig fühle, begegnen lässt…

Gefragt, ob er so etwas wie Heimat empfinde, sagt er, dass Heimat für ihn allein der Grabstein seines Vaters in einem anatolischen Dorf sei – alles andere sei und bleibe ihm fremd.

Ein Glas Leben 2
Die enge Bindung zum Vater hat Dinçer Güçyeter natürlich auch in einem Gedicht zum Ausdruck gebracht, das ich an dieser Stelle einfügen will – ein Gedicht, das natürlich ebenfalls als Metapher für sein Geworfensein in zwei Lebenswelten steht.

vatersprache

erzähle mir ein Märchen, Vater
ein Märchen aus einem fernen Land
ein Land möchte ich von dir hören
wo zwei dickköpfige Feigenknospen aufblühen
wo die Menschen den Fluss unter der Erde
mit verkrusteten Füssen spüren

streue auf meine Erde die Melonensamen
das Bild meiner Wurzeln will ich ewig tragen
wie der Baum, der uns seinen Schatten schenkt
wie die Frau mit gestutzten Ästen
will ich mit eckigen Steinen einen Kampf beginnen

das Wasser in deinem Brunnen
möchte ich schlürfen
von diesen engen Gassen auf deinen Stamm hüpfen
erzähl mir ein Märchen, Vater
pflege mich in deinen Töpfen
erzähle, trete nicht zurück, sei tapfer

Anatolien Blues

Entnommen ist dieses Gedicht dem Band ein glas leben, das Gedichte des Autors aus den Jahren 2002 bis 2006 versammelt; der nachfolgende Band anatolien blues enthält Gedichte, die von 2007 bis 2011 entstanden sind. Seit meiner Begegnung mit dem Autor, die wir bald fortsetzen werden, habe ich nun beide, auch optisch sehr gut gestalteten Bände gelesen und bin (auch wenn ich dem Autor bei einigen wenigen Texten einen etwas strengeren Lektor zur Seite gewünscht hätte) durchweg gefangen von dem lyrischen Atem, der diese Gedichte zum Glühen bringen. Es bleibt zu wünschen, dass viele weitere Texte des Autors folgen werden, denn auf eine Stimme die mit derart gewaltiger Bildkraft und oftmals spürbarer Körperlichkeit vom eigenen Sehnen und Lieben erzählt und uns (vor allem in anatolien blues) mit Toleranz und Menschlichkeit fordernder Empathie die Lust und das Leid von Menschen erfahren lässt, die eine in überkommenden Werten erstarrte Gesellschaft ausgrenzt bis in den Suizid – auf eine solche einzigartige lyrische Stimme können und wollen wir im Kanon der vielen nicht verzichten.

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Über Wolfgang Schiffer

Literatur (und alles, was ihr nahe ist) ist m. E. eines unserer wichtigsten Nahrungsmittel. Also zehre ich von ihr und versuche, sie zugleich zu nähren: als Autor, als Übersetzer, als Vermittler und nicht zuletzt als Hörer und Leser.
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3 Antworten zu Erzähle mir ein Märchen, Vater…

  1. Angelika Schramm schreibt:

    Vielen Dank für diesen Bericht, lieber Wolfgang, der mich sehr nachdenklich zurück lässt.
    „Erzähle mir ein Märchen, Vater
    ein Märchen aus einem fernen Land …“
    Die Suche nach dem unbekannten Vater, nach seinem Land … Der Grabstein des Vaters, – die einzige Heimat des Sohnes, das sind Zeilen, Gedanken, die auch für mein Leben Gültigkeit haben, gerade wieder ganz aktuell beim Lesen und Abschreiben der hinterlassenen Briefe meines kaum erlebten und erinnerten Vaters. Meine Heimat ist kein Grabstein, sondern eine Stele.
    Über diese empfundene Verbindung hinaus legt mir Deine Vorstellung dieses Lyrikers dringend nahe, mehr von ihm zu lesen als das obige, mich sehr berührende Gedicht. Noch einmal Dank.

    • schifferw schreibt:

      Danke für diese einfühlende Reaktion, liebe Angelika. Ich hoffe, das Gedicht dieses Lyrikers berührt angesichts der eigenen Geschichte nicht zu schmerzlich…

  2. Pingback: Zum Frühjahr 3 x Lyrik im Elif Verlag | Wortspiele: Ein literarischer Blog

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