Auf Spurensuche nach dem tschechischen Dichter Jiří Orten
Aus Erfahrung weiß ich natürlich, dass hierzu nur allzu selten die Gelegenheit besteht – aber es gibt wahre Glücksfälle, bei denen sich längst bestehende Pläne mit einem solchen Wunsch verbinden lassen.
So jedenfalls geschah es vor nicht allzu langer Zeit. Zusammen mit meiner Frau hatte ich ein paar Tage im Erzgebirge verbracht – von dort war die Weiterreise nach Prag, der Geburtsstadt meiner Liebsten, geplant – und nichts sprach gegen einen kleinen Umweg, der uns nach Kutná Hora führen würde, einer alten Silberbergbau-Stadt aus dem 13. Jahrhundert, etwa 80 Kilometer östlich von der tschechischen Hauptstadt gelegen.
Ich würde lügen, wenn ich behauptete, Jiří Orten (eigentlich Ohrenstein mit Familiennamen) und sein Werk seien mir bekannt gewesen. Die Netz-Literaturzeitschrift kalmenzone , für die ich bereits einmal über isländische Lyrik hatte schreiben dürfen, hat mich auf ihn aufmerksam gemacht – und zwar durch ihre Anfrage, ob ich für sie den Band Elegie / Elegien von Jiří Orten besprechen würde, im Original posthum 1946 erschienen und 2011 in deutscher Übertragung durch Peter Demetz.
Ich sagte zu (die Besprechung wird in der Oktoberausgabe der kalmenzone erscheinen – bei Interesse bitte vormerken) und erfuhr in der Folge bei ersten schnellen Recherchen nicht nur vom frühen, tragischen Tod dieses Schriftstellers (er wurde Ende August 1941 in Prag von einem Sanitätswagen der deutschen Wehrmacht angefahren – da er Jude war, versagte man ihm jedoch zunächst die medizinische Versorgung, so dass er wenige Tage später, am 1. September 1941, starb), sondern eben auch von Kutná Hora als seiner Geburtsstadt.
Auch sein Geburtshaus fanden wir, in der Kollárova ulice, unweit des zentralen Platzes Palackého náměstí in der Stadtmitte gelegen, und versehen mit einer Gedenktafel, die die Daten seines kurzen Lebens nennt.
Die Stadtbücherei gegenüber dem Steinernen Brunnen war in der Ferienzeit nur äußerst sporadisch geöffnet und dies auch nur zur Ausleihe – eine äußerst freundliche Bibliothekarin führte uns dennoch in den Lese- und Bestandssaal, stolz, uns ein ganzes Regalfach mit den Werken von Jiří Orten zeigen zu können. Die Elegie / Elegien fanden sich hier in einer illustrierten Ausgabe aus dem Jahr 1969 – die Erstausgabe von 1946, die ich so gerne in Augenschein genommen hätte, war leider nicht darunter.Dafür jedoch entdeckte ich in einer Anthologie eines der offensichtlich wenigen Gedichte des Autors, die ins Deutsche übertragen sind – hier ebenfalls von Peter Demetz – ein Gedicht, das in seiner Weltsicht nicht weniger düster ist als der kurz vor dem Tod des Dichters beendete Zyklus Elegie / Elegien.
Am Scheideweg
Staubwolken wirbeln hinterm Henkerskarren.
Der Büttel dreht erschreckt sich um.
Gleich schlägt das Lockenhaupt zur Erde:
tritt näher, näher, Publikum!Gerichtet von jeher, reifte er lang in der Zelle.
Zeit genug: oft blutete, zwischen die Gatter, das Licht.
er denkt nicht mehr an die Klage.
er fordert sich selbst zu Gericht.Fordert er wirklich? Kaum… Hinträumend sich
zu kleinen Wolken und zu jungen Brüsten,
will er, den Henkern gnädig, wie ein Lied
aufsteigen endlich zu den Blutgerüsten.
Nach drei Tagen in Prag angekommen, erfüllte sich dann hier sogar auch noch mein Wunsch bezüglich der Erstausgabe der Elegie / Elegien. Dank sei allen guten Antiquariaten – und insbesondere diesem, dass sie für mich aufgehoben zu haben schien!
Eindrucksvoller Bericht – vielen Dank dafür!
Danke für die liebe Rückmeldung!
Was mir besonders gefallen hat: dass sich deine „Entdeckerfreude“ so unmittelbar auf die Leserin, die ich bin, überträgt! Also: Der Dank bleibt ganz auf meiner Seite!
Des Todeskandidaten lange Zeit in der Zelle als Reifung zu bezeichnen, es schaudert mich – auch bei den „Blutgerüsten“…
Das Beinhaus- ohhhh.
Auch in meiner Nähe ist ein solches, eindrucksvolles, nämlich hinter der Katharinenkirche in Oppenheim- sehenswert- aber das ist eine ganz andere Geschichte.
Danke für Ihren bedilderten Rechercheweg!
Ich danke für die Rückmeldung! Ich war zum ersten Mal in einem Beinhaus – und fand es schon ein wenig makaber, wie dekorativ hier mit Schädeln und Gebein umgegangen wurde!
Wunderbarer Text, zum Niederknien, warmherzig und voller Liebe! Es gibt noch so viele andere, außer dem vielgeliebten Jan Skacel! Herzlichen Dank, berührt mich sehr, wie Du schreibst! Viele liebe Grüsse…ahoi!
Danke – und ahoj!
Interesanter Bericht!- Habe ich gerne gelesen!
Das freut mich! Danke!
Klasse, wieder mal 🙂
Danke! Hat auch mir Freude gemacht!
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