Der isländische Schriftsteller Sjón und sein jüngster Roman…
Obwohl meine Zeit für die Recherche in Reykjavík natürlich begrenzt war und ich mir dringendst noch ein paar Stimmen von jüngeren Vertretern der isländischen Literaturszene mehr wünschte, als ich bis dahin auf meinem Audio-Chip hatte, war ich zu meiner eigenen Verwunderung weder verärgert über dieses Verhalten, noch war ich besorgt – ganz im Gegensatz zu meiner Stimmung bei einer vergleichbaren Situation hier in Deutschland blieb ich eher gelassen und davon überzeugt, dass alles zu einem guten Ende kommen würde… „Þetta reddast!” – „Es wird schon klappen!“ – so würde der Isländer sagen, und diese Einstellung hatte ganz offensichtlich schon ein wenig auf mich abgefärbt.
Und tatsächlich: es klappte! Ich ging gerade Richtung Vesturgata, als auf der Höhe der kleinen Wasser-Skulptur am Hallerisplanið sehr aufrecht auf seinem Fahrrad sitzend und wohl gekleidet ein Mann an mir vorbei radeln wollte – und dieser Mann war Sjón! Ich rief ihm etwas zu, und als er meiner gewahr wurde, sprang er sofort ab und begrüßte mich, als hätten wir uns am Tag zuvor noch in einem der Kaffeehäuser in der Stadt getroffen. Er sei auf dem Weg zu Forlagið, dem Verlag, in dessen JPV útgáfa in Kürze sein neuer Roman erscheinen würde, so erfuhr ich; es gäbe da noch ein paar Kleinigkeiten hinsichtlich des Werbekonzepts zu besprechen, aber danach könnten wir uns ja dort schon einmal in einem der Räume zusammensetzen und ein erstes Interview aufnehmen…Der neue Roman, von dem er sprach, war Mánasteinn. Drengurinn sem aldrei var til – und seither habe ich darauf gewartet, ihn in deutscher Übertragung lesen zu können. Jetzt, im April dieses Jahres war es dank der Übersetzerin Betty Wahl endlich soweit: der S. Fischer Verlag, der von Sjón in den vergangenen Jahren bereits die Romane Der Schattenfuchs und Das Gleißen der Nacht erfolgreich publizierte, hat auch dieses Buch nachgelegt – sein deutscher Titel: Der Junge, den es nicht gab.
Es sei gleich zu Anfang gesagt: das Warten hat sich gelohnt! Der Junge, den es nicht gab ist einmal mehr ein belletristisches Kleinod aus der Feder dieses isländischen Multitalents und Ausnahme-Literaten.
Schon früh wusste er, der unter dem Pseudonym Johnny Triumph bereits den legendären Sugarcubes Songs einspielte, auch mit seinen Liedtexten für die Pop-Ikone Björk (z. B. Oskar-Nominierung für I´ve Seen It All in Lars von Triers Film Dancer in the Dark) zu überzeugen; heute tut er´s, indem er in der Retrospektive, die das New Yorker Museum of Modern Art von März bis Juni dieses Jahres seiner alten Freundin und Weggefährtin widmet, mit kurzen Poemen wie in einer Art lyrischen Reise durch die Stationen ihrer Karriere führt.
Vor allem aber weiß er mit seinen Gedichten, in denen sich ein gewisses „Erbe“ des Surrealismus lesen lässt, zu überzeugen – u. a. nachzulesen in dem im Kleinheinrich Verlag erschienenen, bibliophil gestalteten Sammelband Sjón / Bernd Koberling – und er tut es natürlich mit seinem Prosawerk: hier erhielt er u. a. den Literaturpreis des Nordischen Rates für Der Schattenfuchs und im Jahr des Erscheinens den Isländischen Literaturpreis für Mánasteinn. Drengurinn sem aldrei var til.
Letzterer spielt wie die beiden genannten Vorgänger Der Schattenfuchs (19. Jahrhundert) und Das Gleißen der Nacht (17. Jahrhundert) ebenfalls in der Vergangenheit, ja, in realer Geschichte und einer Wirklichkeit, wie sie zunächst für das isländische Volk dramatischer kaum hätte sein können…
Wir schreiben das Jahr 1918 – den Zeitraum vom 12. Oktober bis zum 6. Dezember. Auf dem europäischen Festland verhandelt man einen Waffenstillstand, der dem Ersten Weltkrieg ein Ende setzen wird, Island ringt Dänemark, unter dessen Herrschaft es steht, einen Unionsvertrag ab, der ihm nunmehr als Königreich Island neben deutlich erweiterter Selbstbestimmung und -verwaltung in der Frage völliger Unabhängigkeit auch das Recht auf einen späteren Volksentscheid zugesteht, einen ersten wichtigen Schritt auf dem Weg in die 1944 realisierte erneute absolute Souveränität.
Zur selben Zeit bricht der Vulkan Katla aus, überglüht die Insel, verdunkelt sie danach für mehrere Wochen mit seiner Asche und verwüstet sie nach dem Schmelzen der Eiskappen mit einem Gletscherlauf – und ein Schiff, das in den Hafen von Reykjavík einläuft, bringt als todbringende Seuche die „Spanische Grippe“ an Land…
Soweit die Fakten, die Sjón als Kulisse dienen für seine Geschichte des Máni Steinn Karlsson, eines 16jährigen Waisen (seine Mutter ist der Lepra zum Opfer gefallen), der bei seiner Urgroßtante aufwächst, in der Dachkammer eines Hauses auf jener kleinen Erhebung in Reykjavík, von der aus heute die Hallgrímskirkja die ganze Stadt überragt.
Doch so vorsichtig er auch ist und so verschwiegen die Orte auch sein mögen, die er aufsucht, um seine und anderer Lust zu befriedigen – der Roman eröffnet mit einer einschlägigen Szene im Schutz der Felsen jenes Hügels, auf dem heute die Perlan, der Warmwasserspeicher Reykjavíks, steht – eine Person weiß um sein Treiben, eine Mitwisserin, die ihm gegenüber allerdings äußerst wohlgesonnen ist und verschwiegen gegenüber anderen…
Ich glaube, ein jeder, der von einer in solcher Weise beschriebenen Frau liest, stellt sich in seinem Kopf geradezu zwangsläufig ein Bild von ihr her – vielleicht eine Comic-Zeichnung, eher aber noch ein großes Filmplakat oder gar eine vollständige kleine Filmsequenz.Sie erscheint auf dem Felsvorsprung wie eine Göttin, dem tiefsten Meeresgrund entstiegen, ihre Silhouette schwarz vor dem lodernden Himmel, erleuchtet vom totglühenden Krater der Katla. Ein Mädchen wie kein andres, in schwarzer Ledermontur, die genau das hervorhebt, was sie verhüllen soll, dazu schwarze Handschuhe, auf dem Kopf ein hoch gewölbter Helm, darunter eine Schutzbrille und ein schwarzer Wollschal vor Mund und Nase.
Das Mädchen nimmt das Tuch vom Gesicht, schiebt die Brille auf den Helm. Ihre Lippen sind rot wie Blut, die Augen von schwarzem Lidstrich umrandet, der ihre gepuderte Haut weißer als weiß erscheinen lässt.
Sólborg Guðbjörnsdóttir, Sóla Guðb-.
Der Junge flüstert: „Ich hab´s gewusst!“
Auch Máni Steinn ist Sóla Guðb-, die etwa gleichaltrige Motorradgöttin, die mit ihrer „Indian“ durch Reykjavíks Straßen und Gassen fährt und dabei schützend eine Hand über ihn zu halten scheint, wie aus dem Film entsprungen.
Als begeisterter Cineast verbringt er täglich oftmals Stunden in den beiden Lichtspielhäusern der Stadt, dem Gamla Bió und dem Nýja Bió, dem alten und neuen Kino, wo kleine Live-Orchester die Stummfilme begleiten – hier ist sie ihm ebenfalls begegnet: als Irma Vep, Anführerin der Bande Les Vampires in Louis Feuillades gleichnamigen, im Übrigen auch die späteren Surrealisten beeindruckenden Stummfilm-Epos, dargestellt von der berühmten Schauspielerin Musidora, als deren Doppelgängerin sie ihm von da an durch sein Denken und Fühlen zieht.
Auch im realen Leben soll er allerdings mit ihr zusammentreffen. Als die „Spanische Grippe“ durch Reykjavík wütet und mehr und mehr Todesopfer fordert, erkrankt auch er; ein Arzt namens Garibaldi Árnason – ein im Übrigen erbitterter Gegner der aufkommenden Filmkunst, in der er große Gefahren für Leib und Seele sieht – kann ihn jedoch retten. Unterstützt hat den Arzt hierbei Sóla Guðb-, die ihm als Krankschwester assistiert; zusammen mit ihr, auch wenn sie ihm in seinen Fieberträumen noch als Todesengel erschienen ist, hilft nun auch Máni Steinn mit beim im Kampf gegen die Seuche. Diese sollte am Ende annähernd 500 Menschen unter der damals etwa 15.000 Einwohner zählenden Bevölkerung Reykjavíks das Leben kosten.

Der Vorplatz des Regierungsgebäudes – mit den Standbildern des dänischen Königs Christian IX und des isländischen Politikers und Dichters Hannes Hafstein . Im Hintergrund die Konzert- und Kongresshalle Harpa
„Abgestochen“, wie es ein aufgebrachter Mitbürger fordert, wird Máni Steinn Karlsson zwar nicht, und auch ins Gefängnis wird er nicht geworfen – aber unter der Anleitung des Arztes Garibaldi Árnason nimmt man wenige Tage später einen Eingriff an ihm vor und verbannt ihn danach nach England, wo sich der Theaterdichter Haraldur Hamar seiner annehmen wird, ein Mann, von dem es heißt, dass ihm so leicht niemand etwas vormache…
Am Abend, bevor das Schiff nach England ablegt, sucht Sóla Guðb- Máni Steinn auf und führt ihn auf das Dach des Gebäudes, in dem er festgehalten wird, des höchsten Bauwerks, das es zur damaligen Zeit in Island gibt. Sie sagt: Ich dachte, das wolltest du vielleicht noch sehen, bevor du fährst.
Vom Dach (…) sieht man nach Norden bis zum Snæfellsjökull und im Süden über die Halbinsel Reykjanes mit ihrem Hausberg, dem pyramidenförmigen Keilir.
Und von hier oben hat man auch Aussicht über Reykjavik, verdunkelt von Not und Mangel – die Häuser liegen da wie Kohlestücke, von denen die Einwohner nur träumen können.
Gut 10 Jahre später, am 9. Juli 1929, treffen die Mitglieder der Künstlergruppe POOL, der Regisseur Kenneth MacPherson, der Dichter Robert Herring und die Romanautorin Annie Winifred Ellerman, mit Künstlernamen Bryher, in Reykjavík ein – begleitet von einem jungen Mann, der sich M. Peter Carlsson nennt und ihnen als Assistent und Dolmetscher dient.
Zweck ihrer Reise sind Aufnahmen für ein neues experimentelles Filmprojekt – Sjón lässt Carlsson aber auch Spuren seiner Vergangenheit nachgehen, er führt uns z. B. zum Grabstein der Karmilla Mariusdóttir, jener Alten, die sich seinerzeit um Máni Steinn gekümmert hat, und zu einem Lieferwagen mit der Aufschrift Sólborg Guðbjörnsdóttir – Malerarbeiten – Telefon: 323 – Anstriche in allen Farben. Und am Ende bringt er, Sjón, sich sogar selber in seinen Roman ein, mit einigen Ästen seines Stammbaums und als Sigurður Ásgrímurs ältester Sohn Sigurjón, der nun hier sitzt und all dies in Erinnerung an seinen Onkel Bósi niederschreibt – den Fischer, Trinker, Sozialisten, Bücherwurm und Schwulen, der im Mai neuzehnhundertdreiundneunzig an Aids verstirbt – niederschreibt als die Geschichte von Máni Steinn, den Jungen, den es nicht gab.
Sjón ist ein Meister im Vexierspiel mit der Wirklichkeit, der Verfremdung, Auslassung und Pointierung, und er schafft es, mit deren Hilfe auch noch hinter die letzte Fassade zu greifen, die Realität aufzustellen weiß. Aber er braucht dazu natürlich auch die Hilfe des Lesers, dem er in seinem derart verdichteten Arbeiten deshalb genau die „Lücken“ lässt, die ihm das Hineinfallen, das Eindringen ermöglichen. Es ist eine Einladung, eine freundliche Aufforderung, sein Werk in all seinen Facetten quasi von innen heraus noch einmal zu vermessen, mit Herz und Verstand, und – fortzuschreiben, von 1918 über die folgenden Jahre hinaus bis in die jeweilige Gegenwart…
Für mich ist dies hohe literarische Kunst!
Wahnsinn! Schon allein der „Plot“ dieses Romans macht Lust auf die Lektüre und dann erst die Rezension. Großes Kompliment! Aber am besten gefallen hat mir die persönliche Einführung – der radeln Dichter, der auf der Straße angehalten und sofort für ein Gespräch terminiert wird – ob das bei uns in München, Köln oder Berlin einfach so ginge?
Danke für diese schöne Reaktion! Das Buch ist großartig – da macht es doppelte Freude, darüber zu schreiben! Und zu der Frage: in Berlin habe ich einmal etwas beinahe Vergleichbares erlebt – in Reykjavík dergleichen allerdings schon öfter! Man kriegt das eben irgendwie hin!
Ein großartiger kleiner Roman, den ich auch wahnsinnig gern gelesen habe. Und der mich zugleich verwirrt und verzaubert hat. Ihn zu rezensieren, fiele mir allerdings schwer.
Sjón hätte aus dem Stoff auch gut einen Roman von 500 Seiten machen können. Hat er aber nicht. Zum Glück! Und so ist dieses besondere Kunstwerk entstanden.
Ganz besonders mochte ich ja die Szenen aus dem Stummfilmkino, allen voran die um das Mädchen Musidora aus „Les Vampires“. Einen schönen Sonntag noch!
Danke! Ich freue mich, dass wir ganz offensichtlich zu einer ähnlichen Einschätzung gekomen sind – auch zu den genannten Szenen. Gute Grüße, Wolfgang
Ich hatte mir vor einiger Zeit den Roman „Das Gleißen der Nacht“ auf die Wunsch-Leseliste gesetzt. Nach deinem wunderbaren Bericht sollte ich den Autor nun endlich einmal lesen. Zumal ich ein großer Fan der nordischen Literatur bin.
Wie und mit welchem der von ihm übersetzten Titel auch immer – ich rate dazu! Dank und gute Grüße, Wolfgang
Ich bin total begeistert – die schönste Verbindung aus ungewöhnlichem Reisebericht und interessanter Buchvorstellung! Macht Spaß, das zu lesen, und auch das Buch, das ich zuvor so gar nicht einzuordnen gewusst hätte, hat es mir um Einiges näher gebracht. Viele Grüße, Sonja
Danke, liebe Sonja! Dein Kommentar freut mich sehr! Gute Grüße, Wolfgang
Vielen Dank für diese wunderbar verfasste Rezension über ein Buch, das mir sehr viele Facetten zu haben scheint; Island und dessen Geschichte, Homosexualität, Spanische Grippe, Vulkanausbruch, Kunst und vor allem auch Menschen.
Danke! Es freut mich, dass meine Besprechung diese Wirkung hat… Die genannten Gedanken zu dem Buch, die vielen Facetten, das stimmt absolut!
Pingback: Kalmenzone | Wortspiele: Ein literarischer Blog
Pingback: Dichtung von der Insel aus Feuer und Eis (37) | Wortspiele: Ein literarischer Blog
Pingback: Im Nachhinein… | Wortspiele: Ein literarischer Blog
Pingback: Dichtung von der Insel aus Feuer und Eis (49) | Wortspiele: Ein literarischer Blog
Pingback: ars poetica | Wortspiele: Ein literarischer Blog