Joachim Sartorius verfasst ein Handbuch der politischen Poesie im 20. Jahrhundert
Bereits nach einem ersten Blättern, Einlesen und Festlesen in dem einen oder anderen Gedicht wage ich ohne jede Scheu ein Urteil: diese Anthologie, für den Verlag Kiepenheuer & Witsch zusammengestellt, eingeleitet und kommentiert von Joachim Sartorius, selber Lyriker und u. a. Herausgeber der wegweisenden Sammlung Atlas der neuen Poesie aus dem Jahr 1995, ist großartig und gehört als stete Lese-Quelle in jede Bibliothek, privat wie öffentlich.
Beginnend mit dem armenischen Genozid über den 1. und 2. Weltkrieg, den Kriegen in Korea, Kambodscha und Vietnam, das Ende des Kalten Krieges bis hin zu den Utopien der Gegenwart – viele der Katastrophen, Umbrüche und Aufbrüche des vergangenen Jahrhunderts, egal auf welchem Kontinent, werden uns in den 19 Kapiteln nebst einem Epilog von Niemals eine Atempause noch einmal literarisch „kommentiert“ und oftmals anklagend in Erinnerung gerufen – und das durch die poetische „Analyse“ und sprachliche Kraft von mehr als 100 Dichterinnen und Dichtern aus aller Welt.
Der Anhang lautet Die Schreckenskammer – es enthält Gedichte von Despoten wie Josef Stalin oder Mao Tse-Tung – und zeigt, gegen welchen Geist sich wahre Dichtung wendet.
Gefreut hat es mich natürlich, unter den vielen Gedichten namhafter Lyrikerinnen und Lyriker auch ein Gedicht des Isländers Stefán Hörður Grímsson zu finden, und zwar im Kapitel 14, das Texte zu den Kriegen in Korea, Kambodscha und Vietnam versammelt.
Síðdegi
Síðdegi í Austurheimi.
Blóm af holdi og blóði ganga þorpsstíginn.
Loftveginn koma steikingasveinar.Þær greina ekki hljóðpípuleik
unnustans í skógarjaðrinum:
Steikt brjóst. Brenndar geirvörtur. Sviðin skaut …En nú er krossmarkað í Vesturheimi
við upphaf fengitíðar.Úti kveikir ágúst bleika sigð.
Nachmittag
Nachmittag im Osten.
Blumen aus Fleisch und Blut gehen den Dorfweg entlang.
Auf dem Luftweg kommen Bratgesellen.Das Flötenspiel des Geliebten
am Waldrand nehmen sie nicht wahr:
Gebratene Brüste. Gebrannte Brustwarzen. Versengte Schöße …Aber nun schlägt man das Kreuz im Westen
zu Beginn der Paarungszeit.Draußen zündet der August eine bleiche Sichel.
Zu diesem Gedicht, erstveröffentlicht in dem Auswahlband des Lyrikers Stefán Hörður Grímsson, Geahnter Flügelschlag (Verlag Kleinheinrich), sagt der Herausgeber der Anthologie Niemals eine Atempause Joachim Sartorius u.a.:
Was dieses Gedicht in der Flut von Vietnamgedichten so einmalig macht: Es spricht bestürzende Wahrheiten in extrem verknappten, realitätsbezogenen Metaphern aus. Diese Bilder sind stark fokussiert auf vietnamesische Frauen als Opfer des Krieges, auf die Zerstörung des Körpers und die Zerstörung der Liebe als Vernichtung alles Lebenswerten. Fast lapidar wirkende Sprachgesten zeigen das ins Allgemeine transzendierende Grauen des Krieges auf: von Korea über Vietnam bis Bosnien, vom „Nachmittag im Osten“ bis zum „Kreuz im Westen“.
Ach, das freut mich, dass wir zu derselben Einschätzung kommen – ich habe die Anthologie bei mir auch vorgestellt und halte sie wirklich auch für bemerkenswert.
Ich war seinerzeit schon vom „Atlas der neuen Poesie“ völlig angetan! Joachim Sartorius ist ein so ernsthaft engagierter, guter Herausgeber – bei aller (notwendigen) Subjektivität seiner Auswahl – es macht große Freude, die hierbei erzielten Ergebnisse zu sehen und zu lesen!
Da kann ich nur zustimmen – ernsthaft, engagiert und vor allem einer, der sich wirklich auskennt!
Danke für den Hinweis auf das Buch lieber Wolfgang, habe ich letzte Woche in Straelen gekauft. Eine sehr gute Anthologie…
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