Meine Reise durch die isländische Poesie
Seinerzeit habe ich versucht, ihn und sein Werk an dieser Stelle in einem kurzen Nachruf zu würdigen, später dann – auf der 3. Station meiner kleinen Reise durch die isländische Dichtkunst der Moderne – habe ich diesem das Gedicht Der Hügel folgen lassen.
Heute nun will ich ein weiteres Gedicht zitieren – und das aus einem bestimmten Anlass.
Der isländische Verlag Ormstunga, der das lyrische Werk Baldur Óskarssons in den letzten Jahren kontinuierlich publiziert hat, hat den bisherigen Veröffentlichungen vor wenigen Tagen nämlich einen Band aus dem Nachlass des Dichters hinzugefügt: Dröfn og Hörgult, übersetzt in etwa Das Meer und das Flachsgelb.
Darin findet sich auch das folgende Gedicht Vegur mannsins, in dem, so vermute ich, der Autor neben aller Jetztzeit-Kritik mit der Erwähnung der breiten Spieße auch der Saga von Grettir Ásmundarson aus der Frühzeit des Inselstaats eine kleine Reverenz erweist.
Im Kapitel 45 heißt es hier in der Beschreibung des Todes von Grettirs Bruder Atli: Da sprang Þorbjörn hervor und rammte Atli seinen Spieß mit beiden Händen in den Bauch, so dass er ganz hindurch ging. Als er den Stoß bekam, sagte Atli: „Breite Spieße werden immer beliebter.“
Ganz so lakonisch klingt Baldur Óskarssons kurzes Nachlass-Gedicht nicht – doch steht die genannte Erwähnung darin einmal mehr für die zahlreichen Rückgriffe auf das literarische Erbe und die kulturellen Mythen, die beständig in die Modernität der Poesie dieses Autors eingewoben sind.
Vegur mannsins
Þau tíðkast nú ekki hin breiðu spjótin
Það tíðkast helst að ullabjakka skilningarvitin
skvetta í eyrun – káma sjóninaSjáðu mig pabbi!
Einhvern tíma mála ég bæinn rauðan og
blessa dauðann –
enginn blessar migDer Weg des Menschen
Die breiten Spieße sind jetzt nicht in Mode
Es ist eher üblich, sich die Sinnesorgane zu bekleckern
die Ohren zuzuschütten – zuzuschmieren die SichtSieh mich an, Vati!
Irgendwann male ich die Stadt rot an und
segne den Tod –
niemand segnet mich
Den Versuch der Annäherung an das Original haben Sigrún Valbergsdóttir und ich unternommen – weitere Übertragungen der Gedichte Baldur Óskarssons ins Deutsche sind verstreut in mehreren Ausgaben der Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik die horen erschienen, zuletzt 2011 im Band 242 Bei betagten Schiffen – Islands Atomdichter. Zuvor erschien im Jahr 2000 im Buchkunstverlag Kleinheinrich die wohl hierzulande umfangreichste Auswahl seiner bis dahin veröffentlichten Gedichte: der zweisprachige Band Tímaland / Zeitland, illustriert mit Aquarellen von Bernd Koberling.
Und wer weiß: vielleicht findet sich ja hierzulande auch ein Verleger, der nun sogar Baldur Óskarssons lyrischen Nachlass in deutscher Übertragung veröffentlichen möchte – bislang hat nur die Isländisch sprechende Leserschaft dieses Vergnügen!
„Breite Spieße werden immer beliebter.“ Ist ja ein Ding. Ich musste sofort an „Aguierre, der Zorn Gottes denken“, wo ein Spanier mit einem Pfeil im Körper vom Floß kippt und dabei sagt „Lange Pfeile scheinen in Mode zu kommen“. In dem Film fand ich das total bekloppt, aber gut, wenn man es als eine moderne Saga sieht … – Das Gedicht finde ich ergreifend.
Letzteres würde dem Dichter Baldur gefallen! Und: die Isländer-Sagas wirken eben fort, nicht nur in der Sprache und im Zitatenschatz der Isländer selbst, sondern – der genannte Film zeigt es – weit darüber hinaus… In dem Sinne gute Grüße, Wolfgang
Feines Poem…
…feiner Beitrag mit Blick auf die Hallgrimskirkja, soooooooo schön:
Liebe Abendgrüße vom Lu
Danke! Und drinnen ist gar keine so schlechte Orgel! Einen schönen Tag wünscht Wolfgang!
Schön zu hören, lieber Schreibfreund, denn nächstes Jahr ist Island fällig *freu schon jetzt drauf*