Nacherzählt von Tilman Spreckelsen – nachgesprochen von Reinhard Kuhnert
Und damit auch das Auge mehr hat als nur ein eindrucksvolles Cover, stellt Kat Menschik über den edel gestalteten Struktur-Umschlag hinaus einige weitere Illustrationen hinzu – diese bebildern den Stoff nicht nur, sondern erzählen ihn geradezu fort in ihrer apokalyptischen Motivik und ihrem für die Illustratorin typischen schnörkellosen, klaren Strich.
Damals in 2011 – der S. Fischer Verlag publizierte zu dem bekannten Anlass gerade in neuer Übersetzung auf mehreren tausend Seiten die berühmten Isländer-Sagas – da waren es gleich fünf dieser etwa 40 Geschichten aus der Frühzeit der Insel, die Tilman Spreckelsen unter dem Titel Der Mordbrand von Örnolfsdalur und andere Isländer-Sagas für den Galiani Verlag auf knapp zweihundert Seiten nacherzählte. Nun im Jahr des Ehrengastes Finnland greift der Verlag mit ihm und der Illustratorin zwar auf dieselbe personelle Konstellation zurück, Tilman Spreckelsen jedoch beschränkt sich (wohl auch aus Ermangelung weiterer Stoffe) auf nur eine Sage: das Kalevala.
Zum Glück, ist man geneigt zu sagen – denn diesem finnischen Ur-Mythos wohnt so viel Zauberkraft inne, das man die dem wiederum sorgfältig und hochwertig gemachten Buch zur Verfügung stehenden Seiten ungern (selbst wenn es sie gäbe) mit einer anderen Geschichte teilen möchte.
Im Original besteht das Kalevala aus weit über 22.000 Versen in fünfzig Gesängen, auch Runen genannt, in denen von der Erschaffung der Welt aus dem zerdrückten Ei einer Ente erzählt wird, von der langwierigen Geburt des weisen Zaubersängers Väinämöinen und dessen Abenteuern, die er und seine Gefährten, der Schmied Ilmarinen und der Schürzenjäger Lemminkäinen vor allem, in dem Zwist zwischen dem armen Volk von Kaleva und Louhi, der mächtigen Herrscherin des Nordlands Pojola, zu bestehen haben.
Einige dieser alt-überlieferten Gesänge waren wohl bereits im 17. Jahrhundert aufgezeichnet worden, aber ein wirkliches Interesse an finnischer Volksdichtung hatte in der amtlich schwedisch sprechenden Gesellschaft, die keine finnische Schriftkultur kannte, zu dem Zeitpunkt noch nicht bestanden. Erst im 19. Jahrhundert, mit dem allmählichen Verlangen und Entstehen nach einer finnischen Identität, ausgelöst durch die nationalen Ideen in Zentraleuropa, war es der Arzt und Philologe Elias Lönnrot, der sich konsequent auf die Suche nach dem Quellenmaterial machte. So unternahm er zwischen den Jahren 1828 und 1844 insgesamt elf Reisen, hauptsächlich durch die Gebiete und Dörfer des zu Russland gehörenden Teils von Karelien und zeichnete alles auf, was man ihm erzählte und vorsang – zumeist begleitet auf der Kantele, jenem alten finnischen Zupfinstrument, das der große Sänger Väinämöinen aus dem Kieferknochen eines Riesenhechts und ein paar Rosshaaren selbst geschaffen hatte – ohne zunächst zu wissen, welch ein Wunderwerk er damit in Händen hielt.
Du solltest das Ding ins Wasser werfen, sagte Lemminkäinen.
Du solltest mich spielen, Väinämöinen, sagte das Instrument, schließlich hast du mich erfunden. Und einen Namen musst du mir auch noch geben.
Kantele, sagte Väinämöinen.
Und als er sie schließlich spielte, kamen alle Tiere des Waldes herbei und lauschten, und auch die Menschen waren vom Klang derart ergriffen, das sie jegliches Tun beendeten und atemlos zuhörten.
Elias Lönnrot, dessen Spuren Tilman Spreckelsen und die Illustratorin Kat Menschik in dem vorliegenden Buch sehr anschaulich folgen, veröffentlichte eine erste Fassung des Kalevala in den Jahren 1835 bis 1836 – der 28. Februar 1835 gilt dabei als „Geburtsstunde“ und wird noch heute als Tag des Kalevala und der finnischen Kultur begangen.
Eine zweite, doppelt so umfangreiche Fassung des Kalevala, dieses in seiner Bedeutung für die Entwicklung der finnischen Literatur und Kultur sowie der nationalen Identität nicht hoch genug zu schätzende Werk, erschien dann 1849 – eine erste Übertragung ins Deutsche fand 1852 statt, und zwar durch Anton Schiefner.
Letztere kann man übrigens hören!
Der John Verlag hat sie als vierteiliges Hörbuch realisiert, ein wenig kommentiert und vorzüglich gelesen von dem Schriftsteller und Schauspieler Reinhard Kuhnert. Die Stunden, die man hiermit verbringt, sind bereits ein großer Gewinn!
Noch bereichernder jedoch ist der Vergleich: hier das sprachlich fein geschliffene Buch, das sich in seiner klaren Eleganz auch äußerlich so manchem Trend auf dem Literaturmarkt entgegenstemmt – und dort die akustische Edition, die, so jedenfalls erging es mir, noch mehr erahnen lässt von der archaischen Poesie und Kraft der Mythen und Wunder, die dieses Werk versammelt.
Kurz noch eine eher persönliche Anmerkung zum Thema nationale Identität: die Isländer-Sagas haben diese natürlich ebenfalls nachhaltig gefestigt und ebenso wie das Kalevala eine entscheidende Rolle im Kampf um erneute Selbstständigkeit, um auch staatliche Unabhängigkeit gespielt.
Mindestens in einem Punkt unterscheiden sie sich allerdings deutlich: Als Isländer hing zu den Zeiten der Besiedlung und der Kämpfe zwischen den Clans, von denen die Sagas erzählen, ein Überleben selten von List, umso mehr jedoch von physischer Kraft und der Fertigkeit im Umgang mit den gängigen Waffen ab – im Finnland früherer Zeiten dagegen bekämpfte man sich mit Gesängen und Zaubersprüchen.
Wollte oder musste man zum Beispiel fliehen und benötigte dazu ein Schiff, so bedurfte es nur der richtigen Formel – und schon baute es sich zusammen. Oder man verwandelte sich … in eine Fliege… in einen Adler?! Und Sieger war am Ende natürlich der mit dem kraftvollsten Zauber!
Warum ich dies anmerke? Nun – ich hätte mir in den letzten Tagen so gern den Zaubersänger Väinämöinen an meiner Seite gewünscht – dann hätte mich das leider umfangreiche Update meines PC-Betriebssystems nicht derart viele Nerven gekostet, dass ich kurz davor stand, eine isländische Axt zu bemühen! Der richtige Zauber – und die Kiste wäre wieder gelaufen! Da identifiziert man sich doch gern! Oder liest und hört eben beides: Isländer-Sagas und das finnische Kalevala!
Der richtige Zauber, um die Kiste wieder zum Laufen zu bringen, ist tatsächlich um einiges sympathischer als die Wucht der Axt, die alles vernichtet. Obwohl ich sagen muss, dass ich die Vorstellung von Dir mit einer isländischen Axt in der Hand auch nicht reizlos finde. 😉 Insofern kann ich das Resümee auch nur unterschreiben.
Beste Grüße, Holger
Danke, lieber Holger! Ich nehme die zustimmende Unterschrift mit Freude zur Kenntnis! Gute Grüße, Wolfgang
Sehr schön und vielfältig, dieser Text über körperliche Kraft und die Gewalt des Zaubers, – und was sie vor langer Zeit bewirkten oder aber vor Tagen bewirken sollten! Vielen Dank, lieber Wolfgang!
Hab Dank für Deinen schönen Kommentar!
Die Musik von Sibelius zu diesem Nationalepos ist sehr schön…
Liebe Grüße
vom Lu
Wohl wahr! Danke – muss ich gleich wieder einmmal hören! Gute Grüße, Wolfgang
Ganz lieben Dank für den Hinweis! Das ist gleich mal auf meinen Weihnachtswunschzettel gewandert.