Eine Polit-Novelle, die nicht nur zur Zeit des Ersten Weltkriegs spielt…
Ich habe derzeit das (herausfordernde) Vergnügen, den Roman Kafkas Leoparden des brasilianisch-jüdischen Schriftstellers Moacyr Scliar (1937 – 2011) für einen Radiosender der ARD als gekürzte Lesefassung einzurichten. Zu meinem Erschrecken stelle ich hierbei fest, dass ich diese vom Umfang her kleine, doch wahnwitzig-bezaubernde Geschichte zwar bereits einmal mittels einer Rezension aus Philea´s Blog erwähnt, selber in meinen „Wortspielen“ aber noch gar nicht so recht vorgestellt habe – und das, obwohl ich sie aus schierer Begeisterung doch in eigener Auswahl für den oben genannten Zweck vorgeschlagen habe…
Wir schreiben das Jahr 1916. In dem kleinen ostjüdischen Dorf Tschernowitzky begeistert sich der junge Benjamin Kantarovitch – später, nach seiner aus Angst vor den Pogromen erfolgten Emigration nach Brasilien, Ratinho (Mäuschen) genannt – für die Ideen der marxistischen Revolution. Von ihr erhofft er sich ein Ende der antijüdischen Gewalt – vor allem jedoch folgt er hierin seinem geliebten Freund Jossi, der ein glühender Anhänger Leo Trotzkis ist.
Jossi, dem etwas älteren Sohn des Metzgers, gelingt es sogar heimlich, Trotzki im Pariser Exil aufzusuchen und von ihm höchst persönlich mit der Durchführung einer wohl wichtigen Aktion beauftragt zu werden, einer Bewährungsprobe sozusagen für die ersehnte Aufnahme in die Kommunistische Partei. Doch nach seiner Rückkehr aus Paris erkrankt Jossi schwer und er bittet Benjamin, den Auftrag für ihn zu übernehmen.
Gleichermaßen aufgeregt wie ängstlich macht sich Benjamin auf den in den Wirren des Kriegs schwierigen Weg nach Prag. Hier soll er einen Mann kontaktieren, einen jüdischen Schriftsteller wohl, von dem er in Form eines verschlüsselten Textes weitere Anweisungen erhalte. Name und Telefonnummer des Mannes befinden sich in einem verschlossenen Umschlag, ebenso das Dokument mit dem der erhaltene Text zu dechiffrieren ist.
Dem jungen und unerfahrenen Möchtegern-Revolutionär passiert jedoch das, was nicht passieren darf: er verliert seine Umhängetasche, in dem sich die Angaben zu seinem Kontaktmann und der Code befinden.
Zunächst am Boden zerstört, gibt er, vor allem um Jossi nicht zu enttäuschen, dann dennoch nicht auf. Er macht sich auf die Suche nach dem Mann, dem jüdischen Schriftsteller, und gerät so an Franz Kafka. In seiner engagierten Naivität hält er ihn für einen Trotzkisten – und Kafka seinerseits sieht in dem jiddisch sprechenden Burschen den Boten einer jüdischen Zeitschrift, der er einen Text versprochen hat – und er übergibt ihm einen Text, eben jenen, der oben zu lesen ist.
Natürlich findet das Verwechslungs- und Verwirrspiel hiermit noch kein Ende – der Text will ja auch noch entschlüsselt sein. Doch das gelingt Benjamin alias Ratinho selbstverständlich ebenso wenig eindeutig wie den vielen literaturwissenschaftlichen Exegeten, die sich mit diesem kryptischen Fragment beschäftigen, seit es in Kafkas Nachlass gefunden wurde.
In der literarischen Fiktion Moacyr Scliars, die in ihrem lustvollen Verweisspiel auf z. B. die jüdische Lehre und natürlich auf Kafkas Leben und Werk sowie in ihrem souveränen Spiel mit Versatzstücken aus Schtetl-Anmutung und Agentengeschichte auf höchst vergnügliche Weise zu überzeugen weiß, kommt der Text jedoch noch zu einem auch praktischen Nutzen:
Jaime, als Großneffe des jetzt als Schneider in Brasilien lebenden Ratinhos auch Erzähler des Romans, wird viele Jahre später in Porto Alegre bei einer Aktion gegen die Putschisten verhaftet. Kafkas Zettel, der ihm von Ratinho zugesteckt wurde, rettet ihm das Leben – lassen sich die Schergen der brasilianischen Militärdiktatur durch ihn doch davon überzeugen, dass Jaime nicht an einem Akt politischen Widerstands teilgenommen habe, sondern allein an einem friedlichen Gespräch über eines der großen Rätsel der Literatur…
Erschienen ist der Roman Kafkas Leoparden, der somit in seinen Schlusskapiteln auch die Verbrechen antijüdischer Pogrome im seinerzeitigen zaristischen Bessarabien mit der Unmenschlichkeit einer Diktatur vernetzt, bereits 2013 – anlässlich des Brasilien-Schwerpunkts auf der Frankfurter Buchmesse – im Lilienfeld Verlag. Aus dem brasilianischen Portugiesisch vortrefflich übersetzt und mit einem aufschlussreichen Nachwort versehen hat ihn Michael Kegler.
Fazit: Auch nach nun mehrfachem Lesen kann ich die Lektüre der Lebensgeschichte des liebenswerten Helden Benjamin alias Ratinho uneingeschränkt empfehlen.
Hallo Wolfgang, dieses kleine, schmale Büchlein steckt doch voller Überraschungen. Ich habe es sehr gern gelesen.
Viele Grüße von der Bücherliebhaberin
Das freut mich! Wunderbar!
Ich hatte ihn schon mehrfach in der Hand – jetzt aber ist wohl doch eine Aneignung für den heimischen Bücherschrank fällig, nach dieser tollen Besprechung. Oder soll ich erst die ARD-Kurzfassungs-Übertragung abwarten?
Nein – in jedem Fall vorher lesen! Auch wenn ich mir sicher bin, dass ich es ganz gut „rüberbringen“ werde – in diesem kleinen Roman steckt doch noch weit mehr!
🙂 Ich werde eben einfach beides genießen!
Oh – dann darf ich ja später nicht vergessen, den Sendetermin mitzuteilen! Mal sehen, ob das klappt…
Ein wirklich großartiger kleiner Roman, lieber Wolfgang! Schön dass er durch deinen Beitrag nun sicher noch mehr begeisterte Leserinnen und Leser finden wird! Liebe Grüße
Petra
Ich danke Dir, liebe Petra – ich wünsche es diesem Roman so wie Du! Gute Grüße, Wolfgang
Hat dies auf Allerlei Kunterbunt… rebloggt und kommentierte:
Darf ich vorstellen… eine Empfehlung…
Herzlichen Dank fürs Weiterreichen!
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