Eine Besprechung in Iceland Review Online
Einige Gedichte aus Þorpið – Das Dorf von Jón úr Vör habe ich in meinem „Wortspielen“ bereits vorgestellt und damit zugleich über die kürzlich erfolgte Publikation der deutschsprachigen Übersetzung dieses Klassikers unter den isländischen Gedichtzyklen im Queich Verlag informiert.Bernhild Vögel, u. a. Literatur- und Kulturkorrespondentin der deutschen Ausgabe von Iceland Review Online, hat (wie seinerzeit die erweiterte Neuausgabe Geahnter Flügelschlag von Stefán Hörður Grímsson aus dem Verlag Kleinheinrich) Original und Übersetzung nun gelesen und ihre Eindrücke „druckfrisch“ ins Netz gestellt.
Ich freue mich, dass ich ihren Artikel in Iceland Review Online heute als Gastbeitrag auch in den „Wortspielen“ bekannt machen darf. Selbst mit einem kurzen visuellen und akustischen Eindruck kann ich zum Schluss noch einmal aufwarten: er ist das Ergebnis meiner Präsentation des Gedichtbandes Þorpið – Das Dorf im Kultursalon Freiraum in Köln, aufgezeichnet von meinem Freund, dem Ichsagmal-Blogger Gunnar Sohn.
„Jón úr Vör stammt aus Patreksfjörður, einem Fischerdorf in der Gemeinde Vesturbyggð, dem südlichsten Teil der Westfjorde. Er ist im Jahre 1917 geboren und wurde von seinen Eltern in Pflege gegeben.
Im mittelalterlichen Island war es unter begüterten Familien üblich, Kinder bei Zieheltern aufwachsen zu lassen. Diese standen meist in der Rangordnung niedriger und empfanden die Übernahme der Pflegschaft als Ehre. Ziehkinder zählten in vielen Fragen auch rechtlich zur Familie.
In späteren Jahrhunderten waren es die ärmsten Familien oder alleinstehende Mütter, die ihre Kinder weggaben, in der Hoffnung, sie fänden bei Pflegeeltern bessere Überlebens- und Bildungschancen.
Doch die Zieheltern in Jón úr Vörs Gedicht Erinnerung verarmten, ihr Anwesen wurde versteigert und sie mussten das Dorf verlassen. Zusammen mit den leiblichen Eltern stellten sie den neunjährigen Jungen vor die bittere Wahl:
Wir, deine Zieheltern, sind so arm,
dass wir unseren eigenen Kinder
nicht länger Obdach geben können,
deine Eltern aber besitzen ein Haus.
Jetzt darfst du wählen
zwischen einem Leben ohne Bleibe mit uns
oder der Rückkehr in die Schar deiner Geschwister.
Der Zyklus Þorpið – Das Dorf, dem ich diese Verse entnommen habe, erschien erstmals 1946. Der damals knapp dreißigjährige Dichter Jón Jónsson, aufgewachsen in einer schuldenbeladenen Bruchbude aus Teerpappe und ungehobeltem Holz, benannte sich selbst danach: Jón úr Vör heißt Jón aus der Seebude (Übersetzer Wolfgang Schiffer merkt an, dass vör im übertragenen Sinn auch Obhut bedeutet).
Jóns Blick zurück ist weder verbittert noch nostalgisch. Viele seiner Verse berühren so stark, weil sie verdichtete, nüchtern vorgetragene Episoden beinhalten. In Arme Leute schildert er zum Beispiel ganz prosaisch den Abschied der fünfköpfigen Familie vom Dorf und das Warten auf den Küstendampfer:
Die Kinder kauern sich im Schutz einiger Truhen, eines Deckensacks und eines Bettgestells zusammen, den Blick gerichtet auf den blauen Eimer voll mit Hafergrütze und zwei Dreiviertelliter-Flaschen Milch als Reiseproviant.
Die poetische Kraft, die dieses Prosagedicht ausstrahlt, liegt in der Erinnerung an den Geschmack der Grütze im blauen Eimer, der in der Hast am Kai zurückblieb.
Island befand sich im Umbruch und ein Hauch der neuen Zeit erreichte auch das entlegenste Dorf. Der feste Glaube – das einzige Gut, das arme Mütter ihren Kindern vererben konnten – weicht nun dem Zweifel. Die Kirche steht leer und revolutionäre Gedanken kursieren in der Gemeinde.
Die Jugendlichen fahren nicht mehr im Ruderboot zum Fischfang, sie heuern auf Dampfschiffen an, schippen Kohle, reinigen die Kessel, fangen Kabeljau statt Seehasen und lernen fremde Strände und Frauen kennen. Oder sie arbeiten im Straßenbau fernab jeder Behausung, denn nun wollen Fremde die Schönheit der Berge trockenen Fußes genießen.
Dann der Zweite Weltkrieg, wo auf dem Atlantik die Angst vor den deutschen Torpedos umgeht: Niemand macht einen Spaß an den zwei ersten Tagen auf Fahrt …
Jón selbst ist nicht mehr zurückgekehrt in die dörfliche Welt seiner Kindheit, sondern hat sich ab den 1950er Jahren als Leiter der Stadtbibliothek aktiv am kulturellen Aufbau von Kópavogur beteiligt. In diesem Nachbarort Reykjavíks, der in fünfzig Jahren zur zweitgrößten Stadt in Island herangewachsen ist, starb der Dichter im Jahr 2000.
Obwohl Jón einer der ersten war, der mit dem starren isländischen Reimschema brach und Þorpið in freien Versen verfasste, entging er der verächtlichen Etikettierung als Atomdichter. Das hat wohl damit zu tun, vermutet Wolfgang, dass der Zyklus eine Sozialreportage in Miniaturform ist, die die Erinnerung nahezu jeden Isländers berührt hat.
Immer wieder neu aufgelegt, ist Þorpið im dichtungs-reichen Island eines der beliebtesten und bekanntesten Poeme. Nach einer aktuellen Umfrage des von Egill Helgason moderierten Literaturjournals Kiljan belegt Þorpið Platz 59 unter den 200 bedeutendsten isländischen Veröffentlichungen.
Wolfgang Schiffer hat den Gedichtzyklus nun zusammen mit Sigrún Valbergsdóttir, der vielseitigen Reykjavíker Theaterregisseurin, Dozentin, Autorin und Wanderführerin, ins Deutsche übertragen. Einige der Übersetzungen sind unter Mitwirkung des in Düsseldorf lebenden Künstlers Jón Thor Gíslason entstanden, bzw. stammen von Magnús Diðrik Baldursson und Wolf Kühnelt.
Dass eine originalgetreue Übersetzung zwar angestrebt, nicht aber immer sinnvoll ist, zeigt folgendes Beispiel. Jón erinnert sich in Großstein an die kindlichen Spiele: Wir …
haben uns gar überlegt,
Elfen zu werden –
der Löwenzahn lacht noch
über uns.
Der auf isländischen Hauswiesen allgegenwärtige Löwenzahn ist der Túnfífill, im Gedicht aber ist von Jakobsfífill die Rede, einem Blümchen, das im Deutschen nordisches Berufkraut heißt. Das würde gut zum Berufswunsch Elfe passen, hätte der deutsche Leser auch nur die geringste Vorstellung von dieser unscheinbaren Pflanze, die ihren Namen vom berufen, sprich verhexen ableitet.
Manchmal muss man in dem mit Zeichnungen von Kjartan Guðjónsson illustrierten Buch umblättern, um ein Originalgedicht mit der Übersetzung vergleichen zu können, meist aber stehen beide hübsch nebeneinander, links der isländische, rechts der deutsche Text. Dabei fiel mir das Wort útmánaðatrosið auf, für das Wolfgang und Jón Thor acht Worte brauchten, um uns begreiflich zu machen, dass gegen Ende des Winters der letzte Rest des Fischvorrates in keinem schönen Zustand mehr war.Doch weil jetzt Ostern bevorsteht und der 1. Mai nicht mehr weit ist, habe ich mich entschieden, zum Schluss lieber die Übersetzung des Gedichtes Pálmasunnudagur sprechen zu lassen:
Palmsonntag
Wenn der Herrgott hierher käme an diesem Tag,
rittlings auf einer abgezehrten Mähre,
die er sich beim alten Halldór,
dem Rosstäuscher, ausgeliehen hat,
was würde er dann tun
und was würde er sagen
zu Bjarni Þórðarson,
der seine müden Knochen ausruht,
der eingeschlafen ist während der Radiomesse,
der es leid ist, Küster zu sein,
doch zum Vorsitzenden der Gewerkschaft wurde,
Vater von zwölf Kindern, ein Mann in den Sechzigern?
Jón úr Vör
Þorpið. Das Dorf
Aus dem Isländischen übertragen und mit einem Nachwort versehen von Sigrún Valbergsdóttir und Wolfgang Schiffer
Mit Zeichnungen von Kjartan Guðjónsson
Queich Verlag, 2014
112 Seiten, 23,90 Euro
Wolfgang Schiffer liest aus Þorpið/Das Dorf
Ein Gastbeitrag von:
Bernhild Vögel
bernhild@icelandreview.com
http://www.birdstage.net
Entnommen der deutschen Ausgabe von Iceland Review Online, 17. April 2014
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