Mord im Kino

Arnaldur Indriðason und sein neuer / alter Kommissar…

Ein Küstenstreifen in Reykjavík © Wolfgang Schiffer

Ein Küstenstreifen in Reykjavík © Wolfgang Schiffer

Ich erinnere mich noch sehr genau an dieses beinah wehmütige Gefühl, das ich vor einiger Zeit nach dem Lesen von Arnaldur Indriðasons Kriminalroman Eiseskälte empfunden habe: Das war´s jetzt also mit Kommissar Erlendur, so dachte ich; hier in der Kälte der Ostfjorde Islands hat er nicht nur seinen Frieden mit der eigenen Vergangenheit gemacht, nach bislang zehn Fällen, von Menschensöhne bis zu Abgründe zuletzt, wird er nun auch nie mehr in einem anderen neuen Fall ermitteln.
Erlendur Sveinnsson, dieser schwierige, melancholische Kriminalbeamte mit der problembehafteten Beziehung zu seinen ins Suff- und Drogenmilieu abgesackten erwachsenen Kindern, der dir bei seinem kriminalistischen Tun so oft auch Geschichte und Charakter des Landes und seiner Menschen nahe gebracht hat, er ist nun selber Geschichte!

Oder etwa doch nicht? Hat der Autor, dessen Erlendur-Fälle ihm zahlreiche angesehene internationale Literaturpreise eingebracht haben und in mehr als vierzig Sprachen übersetzt sind, vielleicht doch ein Einsehen mit seiner getreuen Leserschaft?

Nach Lektüre seines neuen Kriminalromans Duell, der kürzlich ebenso wie alle vorherigen in der Übersetzung von Coletta Bürling im Kölner Lübbe Verlag erschienen ist, sage ich: Ja und nein – und Arnaldur Indriðason wäre nicht der wahre Meister unter den seit einiger Zeit zahlenmäßig geradezu explodierenden Krimi-Autorinnen und –Autoren der Nordmeerinsel, wenn er für seine Ja-Nein-Lösung nicht einen wunderbar überraschenden Dreh gefunden hätte…

Ein weiteres Mal wurde an die Tür geklopft, diesmal etwas entschlossener. Marian stellte das Radio leiser. In der Tür stand ein junger Mann mit einem dichten, rötlichen Haarschopf, den Marian nie gesehen hatte. Er war mittelgroß und kräftig gebaut, aber nicht dick. Er sah intelligent aus, sein Mund verriet Entschlossenheit, aber um die Augen herum befanden sich tiefe Trauerlinien…
„Um was geht es?“, fragte Marian und stand auf.
„Ich bin auch der Suche nach Marian Briem“, sagte der Mann und kratzte sich unter dem Uniformkragen.
„Bist du neu?“, fragte Marian.
„Ich habe gerade bei der Verkehrspolizei angefangen“, sagte der Mann. „Bist du vielleicht…?“
Marian nickte.
„Ich habe da etwas für dich“, erklärte der Polizist und händigte Marian einen Umschlag aus.
„Vielen Dank. Wie heißt du?“, fragte Marian.
„Erlendur“, antwortete der junge Mann mit den seltsam traurigen Gesichtszügen. „Mein Name ist Erlendur Sveinsson.“

Duell 2Das Zitat ist nicht etwa die Exposition des neuen Krimis, es ist sein Ende – und lässt uns Leser natürlich hoffen, dass wir den uns ans Herz gewachsenen Erlendur demnächst in seinen jungen Ermittler-Jahren werden erleben dürfen. Der Mann, dem er sich hier vorstellt, ist nämlich kein anderer als der uns aus vorherigen Erlendur-Krimis bekannte Mentor des Kommissars – anders als dort befindet dieser sich allerdings jetzt nicht im Ruhestand, sondern ist selber der leitende Detektiv der Mordkommission.

Und einen Mord hat er aufzuklären in Duell – einen Mord, verübt an einem jungen, etwas zurückgebliebenen Burschen, als dieser in einer Fünf-Uhr-Kinovorstellung seinem Hobby, der Aufnahme des Film-Tons, nachgeht, während es draußen in Reykjavik nur so wimmelt von Fremden aus aller Welt, vor allem aber aus Russland und den Vereinigten Staaten.

Wir schreiben das Jahr 1972 – auf dem Höhepunkt des Kalten Kriegs hat der US-Amerikaner Bobby Fischer den russischen Schachweltmeister Boris Spasski zum Duell gefordert. Und dieses Duell, quasi stellvertretend für den Kampf der verfeindeten Großmächte, wird nirgendwo anders ausgetragen als in der Hauptstadt der Inselrepublik, die sich damit der internationalen Aufmerksamkeit sicher sein kann.

Ob es sich bei den Angereisten allerdings nur um Schachbegeisterte handelt, ist sehr zu bezweifeln. Eher dürften es alle möglichen „Amtsträger“ aus den jeweiligen Lagern sein, Agenten der CIA und des KGB und wer weiß, aus welchen anderen Spionagenetzen noch auf der Welt…

Hat die Ermordung des Jungen etwas hiermit zu tun? Hat er möglicherweise in der Dunkelheit des Hafenkinos noch etwas anderes aufgezeichnet als nur den Ton des Films? Etwas, das niemand je erfahren darf? Die Tonkassette jedenfalls ist verschwunden!

Marian Briem (mit Hilfe seines jungen Partners Albert) ermittelt in alle Richtungen. Wie die großen Kontrahenten auf dem Schachbrett ihre Figuren, so zieht und rückt auch der Kommissar geduldig und überlegt Indizien und verdächtige Personen mal vor, mal zurück und entwickelt stetig neue Szenarien – die sich am Ende auf nur noch ein mögliches verdichten! Doch selbst dieses wartet zum Schluss noch einmal mit einer handfesten Überraschung auf!

Arnaldur Indriðason versteht es einmal mehr meisterhaft, die wachsenden Spannungsbögen des Plots mit einer geschichtlich authentischen Atmosphäre zu vernetzen. Die Spannungen zwischen Ost und West, die verdeckten Operationen der Geheimdienste, die schwierige Position Islands zwischen den Blöcken, der drohende Kabeljau-Krieg mit England – das alles orientiert sich glaubhaft an den historischen Ereignissen jener Zeit.

Wie bereits in vielen Erlendur-Fällen zuvor, blendet der Autor jedoch auch diesmal noch weiter in die Geschichte seines Landes zurück: ausgehend von den Ereignissen des Jahres 1972 versetzt er uns in die 30er Jahre und lässt uns teilhaben an der leidvollen Kindheitsgeschichte seines Ermittlers Marian Briem.

Als unehelicher Sohn eines Sprosses einer herrschaftlichen Familie mit einer Bediensteten war diesem nämlich zunächst nicht nur jegliche Anerkennung versagt, er erkrankte zudem an Tuberkulose, einer Art isländischer Volkskrankheit zu jener Zeit, und verbrachte viele Jahre in Lungenheilstätten in Island und Dänemark.

Die Schilderung seines bis in die Gegenwart des Geschehens nachwirkenden Überlebenskampfes dort ebenso wie die des Kampfes seiner Leidensgefährten gegen die tödliche Krankheit haben mich sehr beeindruckt und den Roman für mich über den brisanten Kriminalfall hinaus äußerst lesenswert gemacht.

Kurzum: wie bei Arnaldur Indriðason nicht anders zu erwarten – ein überzeugendes Debüt mit dem neuen / alten Kommissar Marian Briem. Ich freue mich jedenfalls auf die Fortsetzungen! Vielleicht sogar mit dem jungen Erlendur darin in einer wachsenden Rolle als neuer Partner? Wer weiß!

Duell-4CD-normPS für Autofahrer oder sonstige Liebhaber von Hörbüchern: wie die Erlendur-Fälle zuvor bietet Lübbe Audio Duell in einer leicht bearbeiteten Fassung auch als Hörbuch an – charakterstark gelesen von Walter Kreye.

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Über Wolfgang Schiffer

Literatur (und alles, was ihr nahe ist) ist m. E. eines unserer wichtigsten Nahrungsmittel. Also zehre ich von ihr und versuche, sie zugleich zu nähren: als Autor, als Übersetzer, als Vermittler und nicht zuletzt als Hörer und Leser.
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5 Antworten zu Mord im Kino

  1. finbarsgift schreibt:

    oh, wieder gute isländische bücher als tipp, danke dafür!
    aber bei mir sind jetzt erst mal alle vom stefansson dran *g*
    fifo-prinzip 🙂
    lg vom lu

  2. Pingback: Eiskaltes Gift | Wortspiele: Ein literarischer Blog

  3. Pingback: Nacht über Reykjavík | Wortspiele: Ein literarischer Blog

  4. norberto42 schreibt:

    Ich habe diesen Roman anders als Herr Schiffer gelesen und ihn für weniger gut befunden; die Begründung dafür steht in meiner kurzen Besprechung und in den beiden Kommentaren: https://norberto42.wordpress.com/2015/09/04/arnaldur-idridason-duell-besprechung/

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