Meine Reise durch die isländische Poesie
Der erste Schritt ist getan. Alle Gespräche, die ich bei meinem letzten Island-Besuch geführt habe, sind endlich transkribiert und übersetzt – mit der Auswahl, dem Verdichten, dem Schreiben des eigenen Textes und der sinnfälligen Montage mit lyrischen und journalistischen Dokumenten jener Zeit beginnt jetzt der schwierige Teil der Arbeit an meinem Radio-Projekt über Islands „Atomdichter“ und den durch ihr literarisches Wirken ausgelösten Kulturstreit auf der Insel im Nordmeer. Kaum hatte im Jahr 1944 ihr Land als Republik nämlich wieder die absolute Souveränität errungen, da machten sie sich daran – sehr zum Missfallen so mancher der damals etwa 130.000 Bewohner – nun auch die Form der isländischen Dichtung grundlegend zu verändern.Wenn man das nachfolgende Gedicht liest, mag man kaum glauben, dass Texte wie diese noch Mitte des letzten Jahrhunderts öffentliche Proteste hervorrufen konnten. Und doch war es so: Die isländische Poesie war (und ist es teils immer noch) derart tief in ihrer über Jahrhunderte gewachsenen Tradition verwurzelt, dass bereits das geringste Abweichen von den verbindlichen Formgefügen das Land Kopf stehen ließ, sahen doch viele hierin nicht weniger als den Beginn des Niedergangs all ihrer kulturellen Werte.
Entnommen ist dieses Gedicht einmal mehr dem soeben in erweiterter Neuauflage erschienenen Band „Geahnter Flügelschlag“, auf den ich kürzlich bereits hingewiesen habe. Da er zweisprachig publiziert ist, macht er sowohl das isländische wie das deutschsprachige Lesepublikum mit einer von einem umfänglichen Nachwort begleitenten Auswahl der Poesie des isländischen Dichters Stefán Hörður Grímsson neu bekannt. Die Übersetzung – sie liegt mehr als zwanzig Jahre zurück – ist eine Gemeinschaftsarbeit von mir und meinem inzwischen gestorbenen Freund Franz Gíslason. Wir fanden das Gedicht einfach nur aussagekräftig und – schön. In meinen Augen gilt dies auch heute noch!
Vetrardagur
Í grænan febrúarhimin
stara brostin augu vatnanna
frá kaldri ásjónu landsins.Af ferðum vindanna eirðarlausu
um víðáttu hvolfsins
hafa engar spurnir borizt.Litlausri hrímþoku blandið
hefur lognið stirðnað
við brjóst hvítra eyðimarka.Undir hola þagnarskelina
leita stakir bassatónar
þegar íshjartað slær.Á mjóum fótleggjum sínum
koma mennirnir eftir hjarninu
með fjöll á herðum sér.Wintertag
In den grünen Februarhimmel
starren gebrochen die Augen der Seen
aus dem kalten Antlitz des Landes.Von den Reisen der rastlosen Winde
durch die Weite des Äthers
drang keine Nachricht zu uns.Farblosem Frostdunst vermischt
liegt die Windstille starr
an der Brust weißer Wüsten.Unter die hohle Kruste des Schweigens
dringen einsame Basstöne
wenn das Eisherz schlägt.Auf ihren dünnen Beinen
kommen die Menschen über den verharschten Schnee
mit Bergen auf ihren Schultern.
Ergreifend schön, das ist es. Das Bild von den Menschen mit Bergen auf ihren Schultern wird mich auch im Flachland noch eine Weile begleiten. Und einmal mehr passt das alte Foto, das seinerseits einen farblosen Frostdunst verströmt, ganz wunderbar.
Herzlichen Dank für diesen ebenfalls sehr stimmungsvollen Kommentar. Gute Grüße,
Wolfgang Schiffer
Ein wirklich schönes Gedicht, erstaunlich dass es Proteste wachrufen konnte. Aber ich kenne mich auch leider viel zu wenig mit isländischer Poesie aus, um das nachvollziehen zu können.
Liebe Petra, ja, eigentlich unvorstellbar! In dem von mir mitherausgegebenen Band „Bei betagten Schiffen“ über die Modernisierung der isländischen Dichtung kann man ein wenig über die Hintergründe erfahren… Mehr noch hoffe ich demnächst mit meinem Radioprojekt, an dem ich sitze, leisten zu können. Doch wie auch immer: Wir sollten ein Gedicht wie dieses schlicht „genießen“. Gute Grüße, Wolfgang Schiffer
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