Dichtung von der Insel aus Feuer und Eis (2)

Meine Reise durch die isländische Poesie

Þingvellir © Wolfgang Schiffer

Þingvellir © Wolfgang Schiffer

Mit „Warten“ von Einar Bragi stelle ich in meiner losen Folge „Dichtung von der Insel aus Feuer und Eis“ heute erneut ein Gedicht eines der sogenannten Atomdichter Islands vor. Einar Bragi (1921 bis 2005) war einer der konsequentesten und streitbarsten Erneuerer der isländischen Poesie. Neben seinem umfangreichen lyrischen Werk publizierte er zahlreiche Artikel, in denen er sich gegen die seinerzeitigen Anfeindungen von Seiten der Traditionalisten zur Wehr setzte und eine Modernisierung der Dichtkunst, wie sie die „Atomdichter“ einleitenden, als dringend notwendig forderte. Auch gründete er 1953 mit der Zeitschrift „Birtingur“ ein Publikationsorgan, das den neuen Strömungen in der Literatur, aber auch denen der Bildenden Kunst, bis zu seiner Einstellung im Jahr 1968 eine kreative Plattform bot. All dies ist dokumentiert in dem umfangreichen Band „Bei betagten Schiffen – Islands Atomdichter“, erschienen 2011 in der Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik „die horen“.

Das heutige Gedicht ist diesem Band entnommen. Die Übersetzung ist von Magnús Diðrik Baldursson und Wolf Kühnelt .

Das Original entstammt dem ersten Gedichtband Einar Bragis, „Eitt kvöld í júni / Ein Abend im Juni“. Dieser Band inspirierte den in Düsseldorf lebenden isländischen Maler Jón Thor Gíslason zu einem Bild gleichen Titels. Jón Thor, vor seiner Karriere als Maler in Island ein erfolgreicher Pop-Sänger und Autor einiger Kurzgeschichten, hat zudem als mein Mit-Übersetzer an manchen Gedichten in dem „horen“-Band über die „Atomdichter“ mitgewirkt.

Ein Abend im Juni 2011, Acryl auf Leinwand, 150 x 125. Mit freundlicher Genehmigung des Malers Jón Thor Gíslason

Ein Abend im Juni 2011, Acryl auf Leinwand, 150 x 125. Mit freundlicher Genehmigung des Malers Jón Thor Gíslason

Bið

Hvílast í þögn og vaxa: vorsáð fræ
og vera sjálfur moldin sem því hlúir,
regn sól og vindur, himinn jörð og haf

hvílast í þögn og vaxa: verða tré
sem vetrarnakið bíður eitt og þráir
að finna brýnd við börkinn lítil nef.

Þá ymur tiginn álmur við og fagnar
Óðni vígður jafnt til söngs og þagnar.

Warten

Ruhen in Schweigen und wachsen: Frühlingssamenkorn
und selber die Erde sein, die es schützt,
Regen Sonne und Wind, Himmel Erde und Meer

ruhen in Schweigen und wachsen: Baum werden
der winternackt allein wartet und sich wünscht
dass an seiner Rinde sich kleine Schnäbel wetzen.

Dann ächzt die mächtige Esche und grüßt
Odin geweiht gleichermaßen zum Singen wie zum Schweigen.

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Über Wolfgang Schiffer

Literatur (und alles, was ihr nahe ist) ist m. E. eines unserer wichtigsten Nahrungsmittel. Also zehre ich von ihr und versuche, sie zugleich zu nähren: als Autor, als Übersetzer, als Vermittler und nicht zuletzt als Hörer und Leser.
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8 Antworten zu Dichtung von der Insel aus Feuer und Eis (2)

  1. kulturgeschwaetz schreibt:

    Ich mag die Reihe total, weil ich natürlich von isländischer Literatur keine Ahnung habe. Und weil ich so gerne mal nach Island reisen würde.

  2. schifferw schreibt:

    Danke! Das freut mich sehr und bestärkt meine Motivation, die Reihe fortzusetzen. Island ist wirklich eine Reise wert – ich habe das Glück, mich in einigen Tagen wieder einmal auf den Weg dorthin machen zu können. Und ich bin sicher: es wartet auch die eine oder andere neue literarische Entdeckung auf mich!

  3. Annette Maron schreibt:

    Ich kann nur jedem den von Wolfgang Schiffer wiederholt erwähnten die horen-Band „Bei betagten Schiffen – Islands Atomdichter“ empfehlen – ein lehrreiches und hoch interessantes Buch, auch für jemanden, der bislang noch keinen Zugang zu isländischer Poesie hatte.

    Ihnen, lieber Wolfgang Schiffer, eine wunderbare Zeit auf Island!

    Grüße von Annette Maron

  4. Martin Oels schreibt:

    Lieber Wolfgang,
    es ist sehr spannend, Island – für mich bisher ein unbereistes Land – durch Deinen Blog nun literarisch zu erkunden. Auch wenn sich mir die isländische Atomdichter-Lyrik noch nicht wirklich erschließt. Aber ich bleibe dran.
    Dir eine schöne Zeit weit nordwärts.
    Martin Oels

    • schifferw schreibt:

      Lieber Martin,
      herzlichen Dank! Ich verstehe, dass sich das Bild nach den ersten zwei Gedichten, die sich primär nur durch ihre ungebundene Form von den bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts gültigen Gedichtformen unterscheiden, noch nicht rundet. Aber keine Sorge, es folgen noch Texte, die auch den thematischen Wandel deutlich machen.
      Gute Grüße
      Wolfgang Schiffer

  5. Angelika Schramm schreibt:

    Die mächtigen, alten Eichen, die vor meinem Fenster im Sommerwind rauschen, grüßen ihre Schwester, Odins Esche, im hohen Norden.
    Ein Gedicht nach meinem Herzen! Danke, Wolfgang!

    • schifferw schreibt:

      Gerne, liebe Angelika! Es freut mich, dass es gefällt… Gute Grüße, Wolfgang

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