Die Hexe teilt aus

In den Niederlanden erschien mit „De helleveeg“ ein neuer Roman von A. F. Th. van der Heijden

Auf dem Weg in die Niederlande © Wolfgang Schiffer

Auf dem Weg in die Niederlande © Wolfgang Schiffer

Kritikern und Lesern gleichermaßen gilt A. F. Th. van der Heijden als einer der bedeutendsten niederländischen Schriftsteller der Gegenwart. Geboren 1951 in Geldrop bei Eindhoven, begann er seine schriftstellerische Karriere 1978 mit dem Erzählungsband „Eine Gondel in der Herrengracht“; bereits 2011 wurde er erstmals in Anerkennung seines Lebenswerkes mit dem Constantijn Huygensprijs ausgezeichnet.

Der Anwalt der HähneDem deutschen Lesepublikum ist er vor allem durch seinen Zyklus „De tandeloze tijd / Die zahnlose Zeit“ bekannt geworden: ein mehrteiliges, großartiges Zeit- und Gesellschaftspanorama, das vom Prolog „Die Schlacht um die Blaubrücke“ bis zu „Der Anwalt der Hähne“ in seiner Übersetzung komplett im Suhrkamp Verlag erschien, wenn auch, gemessen an der Zeit, die die einzelnen Bände behandeln, so wie bereits im Original nicht in der chronologisch richtigen Reihenfolge.
Dennoch: mit „der Anwalt der Hähne“ schien der Autor den Zyklus zu Ende geschrieben zu haben, ja, nach „Tonio“ (2010 / in deutscher Übersetzung 2011 ebenfalls bei Suhrkamp), einem Werk, das van der Heijden nach dem tödlichen Verkehrsunfall seines Sohnes schuf, war gar zu befürchten, dass er womöglich gar nicht mehr schreiben würde…

Seit einigen Wochen wissen wir, dass diese Befürchtung unbegründet ist. In der Freude darüber habe ich Ulrich Faure, Online-Chefredakteur des Literatur-Fachmagazins „BuchMarkt“ und mit dem Autor persönlich bekannten Kenner des van der Heijdenschen Werks um einen Gastbeitrag in „Wortspiele“ gebeten.

tonioFür Leser des ergreifenden Requiem-Romans „Tonio“ (in den Niederlanden derzeit in der 19. Auflage!) von A. F. Th. van der Heijden war klar, dass es lange dauern würde, bis der Autor den Schock über den Tod seines Sohnes Tonio überwunden haben würde – im Buch selbst heißt es dazu mehrfach: Nach diesem Requiem kommt nichts mehr.

Seit dem 30. Mai ist klar, dass A. F. Th. Van der Heijden das Schreiben nicht aufgegeben hat: bei seinem Verlag De Bezige Bij erschien jetzt sein neuer Roman „De helleveeg“ (auf deutsch etwa: Hexe, Drachen, Satansweib, wörtlich: Höllenbesen), und am selben Tag wurde van der Heijden bereits zum zweiten Mal für sein Lebenswerk geehrt, diesmal mit dem P. C. Hooft Preis. Ein paar Tage später signierte er sein Werk bei der Buchhandlung Athenaeum auf dem Spui in Amsterdam. Auch steht inzwischen fest, dass der Roman verfilmt wird.

Die größte Überraschung aber ist: A. F. Th. van der Heijden setzt mit dem neuen Buch auf 240 Druckseiten seinen eigentlich seit über zehn Jahren abgeschlossenen Zyklus „Die zahnlose Zeit“ fort („… eine Trilogie, aus der dann sieben Bände geworden sind“, scherzte er bei Erscheinen des Gesamtwerks 2003 im deutschen Fernsehen), und dem neuen Roman entnehmen wir, dass noch mindestens drei weitere „Zeit“-Romane folgen werden: Erscheinungstermine freilich ungewiss. Wie es aussieht, muss sich der zweite große Zyklus des Autors („Homo Duplex“), den er 2003 mit „De Movo Tapes“ begann, erst einmal hinten anstellen, Vorfahrt hat derzeit wieder die Amsterdamer comédie humaine …

De helleveegDie titelgebende Hexe des neuen Romans ist übrigens eine alte Bekannte, allerdings nur für sehr aufmerksame Leser des „Zeit“-Zyklus’: die Schwester der Mutter von Albert Egberts (schauen Sie ins „Gefahrendreieck“, S. 288 ff.). Tante Tineke van der Serckt also. Genannt wird sie Tientje Poets, ein vielseitig sprechender Name, der sowohl auf ihre xantippenhafte Zankhaftigkeit und Streitlust (poets = Streich, Schabernack) als auch auf ihren Sauberkeitsfimmel (poetsen = putzen) anspielt: ständig feudelt sie mit einem Staubtuch durch die Gegend.
Aber so attraktiv Tientje (auch für Albert Egberts) ist – sie ist vor allem ein unausstehliches Biest, ein ausgemachtes Miststück, der Killer jeder Familienfestlichkeit, von Gott nur dazu erschaffen, der Menschheit auf den Nerv zu gehen – und das alles tut sie planvoll, berechnend und effektiv.

Woraus A. F. Th. van der Heijden natürlich wieder lauter literarische Kabinettstückchen zaubert: die kinderlose Tante (weil ihr Mann keine Kinder zeugen kann), die unter ihren sehr katholischen Eltern schwer gelitten hat und nun boshaft und ohne Rücksicht auf Verluste (und ohne dass es ihr irgendwie peinlich wäre) austeilt. Besser: aus-keult. Und immer dahin trifft, wo es am meisten wehtut.

Doch je weiter man liest, desto mehr Abgründe tun sich auf. Nein, Tinys Verhalten findet man nicht besser – aber man versteht es. Von einer Vergewaltigung und einer anschließenden Abtreibung ist die Rede, die die reinste Schlächterei gewesen sein muss (und vor allem die „Engelmacherin“ ist eine – vielleicht gar, die titelgebende, wer weiß? – Hexe). Plötzlich lernt man eine heimlich und außerehelich gezeugte Kinderschar kennen, die die Familie aufs Ungeheuerlichste vergrößert. Kurz: Nichts ist auf einmal mehr, wie es zu Anfang schien – und der Leser ahnt das Ausmaß der Tragödie um Tante Tiny, einer Tragödie, die trotz ihrer Leichthändigkeit durchaus „altgriechisches Format“ besitzt.

Der Autor und seine Übersetzerin im Jahr 2003 © Ulrich Faure

Der Autor und seine Übersetzerin im Jahr 2003 © Ulrich Faure

Im nächsten Jahr soll die deutsche Übersetzung des Romans im Suhrkamp Verlag erscheinen, und man darf sich jetzt schon auf das Sprachfeuerwerk von Helga van Beuningen freuen, die das Gesamtwerk A. F. Th. van der Heijdens kongenial übertragen hat.

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Über Wolfgang Schiffer

Literatur (und alles, was ihr nahe ist) ist m. E. eines unserer wichtigsten Nahrungsmittel. Also zehre ich von ihr und versuche, sie zugleich zu nähren: als Autor, als Übersetzer, als Vermittler und nicht zuletzt als Hörer und Leser.
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5 Antworten zu Die Hexe teilt aus

  1. gsohn schreibt:

    Hat dies auf Ich sag mal rebloggt.

    • schifferw schreibt:

      Herzlichen Dank! Autor und Werk haben es wirklich verdient, viele Leser zu finden!

  2. buzzaldrinsblog schreibt:

    Ich kenne A. F. Th. van der Heijden bisher nur vom Namen her, habe aber noch nichts von ihm gelesen. Sein Roman „Tonio“ steht hier aber schon im Regal und wartet bereits ganz ungeduldig darauf, gelesen zu werden … nach diesem interessanten Beitrag über ihn, bin ich nun noch gespannter auf die Lektüre! 🙂

  3. Pingback: „Motregen“ in Amsterdam | Wortspiele: Ein literarischer Blog

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