„Im Sommer 2013 wird der 250. Band der „horen“ erscheinen. Dies ist ein Anlass, um einmal auf die Literaturzeitschrift (in all ihren Wortbestandteilen) zu schauen. In Form und Inhalt darf bzw. soll es offen sein, ob der Blick auf ein ganzes Land, eine Landschaft oder ein einzelnes Projekt gerichtet wird… Können wir Sie / Dich für ein Mittun erwärmen?“
Als ich im Dezember letzten Jahres diese Einladung der Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik „die horen“ erhielt, gefolgt von der naheliegenden Nachfrage des jetzigen „horen“-Herausgebers Jürgen Krätzer, ob ich nicht etwas zum Thema „Literaturzeitschriften in Island“ machen könne, habe ich einerseits zugesagt, andererseits aber auch nicht tiefer über ein solches Vorhaben nachgedacht.
Und nun – einige Monate später – halte ich das Ergebnis, von Sascha Feuchert und Jürgen Krätzer zusammengestellt, in Händen, blättere, lese – und bin von diesem Ergebnis derart angetan, dass mich gar der mögliche Vorwurf des Selbstreferenziellen angesichts meines eigenen Beitrags darin nicht davon abhalten kann, meine Begeisterung mit anderen zu teilen. Der Vorwurf zielte auch ins Leere, denn in dem reichen Kosmos aus Berichten, Erinnerungen, Bestandsaufnahmen, Würdigungen, Interviews etc. zur Geschichte, Entwicklung und Bedeutung von Literaturzeitschriften hierzulande und in manch anderen Ländern, den der über 300 Seiten starke Band in Beiträgen namhafter Autoren, Verleger und Kritiker vor dem Leser aufblättert, ist mein Interview mit dem isländischen Verleger Gísli Már Gíslason geradezu eine Marginalie.
Da erinnert sich u. a. Günter Kunert an seine ersten Leseerfahrungen mit den legendären Zeitschriften „Die Weltbühne“ und „Die Fackel“; auch Rolf Schneider liefert eine Reminiszenz an das Wirken von Karl Kraus, dem „Fackel“-Herausgeber („Pressköter“ und „Tintenstrolche“ zählten zu dessen Lieblingsbezeichnungen für journalistische Gegner…), und würdigt in einem weiteren Beitrag die Bedeutung der von Alfred Andersch zusammen mit Hans Werner Richter, dem Begründer der Gruppe 47, geleiteten Zeitschrift „Der Ruf“, der später, nach deren Verbot durch die amerikanische Besatzungsmacht, die von Andersch allein herausgegebenen „Texte und Zeichen“ folgen sollten.
Der Dichter und Romancier Peter Härtling berichtet von seiner Arbeit beim „Monat“, ergänzt um eine kritisch-subjektive Bewertung dieser seinerzeit unter CIA-Förderungsverdacht stehenden Zeitschrift, in der neben vielen anderen Beiträgen von Literatur- und Geistesgrößen nicht zuletzt auch „Die Blechtrommel“ von Günter Grass in ersten Auszügen erschien, und Johanno Strasser, Politologe, Publizist und Literat in einem, erzählt über seine Redaktionsarbeit bei der literarisch-politischen Zeitschrift „L´80“, die viele engagierte Leser noch heute ebenso vermissen wie den auch das damalige linke Weltbild aufmischenden „Freibeuter“, zu dem Adelbert Reif ein Gespräch mit dessen Herausgeber Klaus Wagenbach führt.
Der Reminiszenzen an vergangene, das Kultur- und Politikgeschehen Österreichs, des Deutschen Reichs und später der DDR und der Bundesrepublik befeuernde Zeitschriften, gibt es noch viele in diesem Jubiläumsband; auch den Exilzeitschriften sind u. a. mit Ulrich Faures Spurensuche zu den „Neuen Deutschen Blättern“ von Wieland Herzfelde und der im Amsterdamer Querido-Verlag erschienenen „Sammlung“ von Klaus Mann sowie mit Sascha Feucherts Plädoyer für eine Wiederentdeckung der bis Ende des 2. Weltkriegs in China erschienenen „Dschunke“ äußerst lesenswerte Erinnerungssteine gesetzt – der Blick in die Gegenwart macht jedoch sinnfällig, dass auch heute noch die Landschaften der Literatur ohne ihre Zeitschriften entschieden ärmer wären, und dass ohne sie der gesellschaftliche Diskurs, der auch über Ländergrenzen hinweg mit den Mitteln der Literatur geführt wird, dem Verstummen näher käme.
Dies belegen markant die Berichte über einzelne Literaturzeitschriften oder Voraussetzungen und Wirkweisen ihres Marktes, in denen der Jubiläumsband den Blick über die Grenzen des Deutschsprachigen hinaus weitet – nach Frankreich und den Maghreb zum Beispiel, nach Polen, Bulgarien, Griechenland, Korea, Island, Russland, Weißrussland, China – und natürlich scheint die Gefahr einer literarischen und intellektuellen Verarmung da umso mehr auf, wo die Bedingungen, unter denen die Literaturproduktion und das Zeitschriftenmachen erfolgen, nicht nur wirtschaftlich, sondern auch und vor allem politisch äußerst prekär sind.
Letzteres Hindernis ist zum Glück nicht überall gegeben, oder, wenn wir an unser Land denken, nicht mehr, und welches Glück dies bedeutet, lässt sich sehr gut an dem Artikel „Provinzialischer Charme bis Kampfblatt wider Zeitgeist“ von Matthias Biskupek nachvollziehen, in dem er drei Publikationsversuchen einer „Übergangsgesellschaft“, wie er die unmittelbare Zeit nach der Wiedervereinigung Deutschlands nennt, auf den Grund geht und eine Phase der Gründereuphorie von literarischen Zeitschriften beschreibt, denen zumeist jedoch wieder ein baldiges Ende beschieden war.
Anderen Literaturzeitschriften hierzulande, die den Reichtum unserer Literaturlandschaft nicht nur entscheidend mitprägen, sondern ihn insbesondere durch ihre engagiert-kritische Revision von Altem und vielfältigen Entdeckungen von Neuem entscheidend mitschaffen, ist zu unserem Leserglück ein solches Schicksal jedoch noch erspart geblieben. Der „horen“-Jubiläumsband stellt das ausdifferenzierte Panorama vor, von „BELLA triste“ über „Edit“ und „Sinn und Form“ bis hin zur Internet-Präsenz der Plattform „lyrikline“ von Heiko Strunk und manchen anderen.
Drei dieser anderen will ich noch besonders erwähnen. Da ist der Beitrag von Susanne Krones zu den im Hanser Verlag erscheinenden „Akzenten“, gegründet und zunächst herausgegeben von Walter Höllerer und Hans Bender, die, wenn man so will, das Selbstverständnis aller der Mitte der 50er Jahre neu die Landschaft betretenden Literaturzeitschriften formulierten: sie wollten „das Neue in die literarische Welt bringen, Resonanzraum für die neuen Stimmen sein und Autoren entdecken“.
Vergleichbares gilt für das aus einer Schreibwerkstatt der Essener Volkshochschule hervorgegangene „Schreibheft“, das seit 1982 von Norbert Wehr herausgegeben wird. Sein besonderes Merkmal besteht in einem Literaturkonzept, das einen Gegenstand – sei es ein Autor, ein Buch, eine literarische Gruppe, sei es die Literatur einer Sprache – in Schwerpunkt-Dossiers facettiert und möglichst viele O-Töne literarischer, biographischer, übersetzerischer oder wissenschaftlicher Auseinandersetzung dazu versammelt. Welche positiven Auswirkungen die derart unternommenen Streifzüge durch andere Sprachen und zu einzelnen Autorinnen und Autoren der Moderne oder zu solchen, die auf der Schwelle zur Moderne gestanden haben, auf den „großen“ Literaturmarkt gehabt haben, beschreibt Annette Brockhoff trefflich in ihrem Beitrag „Im Garten der verzweigten Pfade“.
Zu guter Letzt: der vorliegende Band 250 ist ein Jubiläumsband der Zeitschrift für Literatur, Kultur und Kritik „die horen“ – und da darf ein Beitrag über sie selbst natürlich nicht fehlen. Und den hat kein Geringerer geschrieben als Johann P. Tammen, der Lyriker und langjährige ehemalige Herausgeber dieser Zeitschrift.
„Übers Hangen und Hoffen, Wagen und Gewinnen“ nennt er im Untertitel seine Rückbesinnung; in ihr erfahren wir nicht nur eindrucksvoll, welches die Hoffnungen und Ziele des seinerzeitigen Gründers Friedrich Schiller waren, sondern auch, warum „die horen“ nach ihrer in bewusster Schiller-Nachfolge erfolgten Neugründung durch Kurt Morawietz im Jahre 1955 heute, im 58. Jahrgang, vielen nach wie vor als eine der wichtigsten und profiliertesten Literaturzeitschriften Deutschlands gelten. Der Jury-Spruch des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, der dieser Zeitschrift bereits zwei Mal den Alfred Kerr-Preis verliehen hat, mag es andeuten: „…weil sie mit großer Aufmerksamkeit die internationale Literatur beobachtet und vorstellt; weil sie in der deutschen Literatur nicht nur das Neueste behandelt, sondern sich um vergessene Autoren kümmert; weil sie mit Text und Kritik zu wesentlichen, wenig beachteten Autoren und Werken hinführt; weil sie den Leser durch Nachrichten und Kommentare am literarischen Leben beteiligt.“
Und nun haben die so gerühmten, seit 2012 im Wallstein Verlag erscheinenden „horen“ zu ihrem Jubiläum gar noch auf einen umfänglichen Festakt zu ihren eigenen Ehren verzichtet und stattdessen der „Literaturzeitschrift an sich“ eine Festschrift zukommen lassen. Welch eine grandiose Idee! Gratulation!
Ein Allerletztes: Uwe Kolbe konstatiert in seinem Beitrag zum Band den Literaturzeitschriften allgemein eine Besonderheit in der Medienlandschaft, sie seien „…ein beharrendes und beharrliches, ein störrisches Element“. Dass man es mit dieser „Charakterausstattung“ im heutigen Literaturbetrieb allerdings nicht immer leicht hat, klingt nicht nur im Vorwort der Herausgeber an, zwischen den Zeilen so mancher Artikel ahnt man angesichts schwindender Käuferzahlen und zunehmender Ignoranz von Seiten des Buchhandels, der öffentlichen Bibliotheken und vor allem der Feuilletons in allen Medien ebenfalls die Sorge um das Fortbestehen. Eine detailliertere Beschreibung und Analyse dieser Negativentwicklung ist vielleicht nicht zu leisten gewesen; ihr Fehlen im vorliegenden Band bedauere ich dennoch. Und nachholen kann ich diese leider auch nicht – ich kann an dieser Stelle nur an alle Leserinnen und Leser, an den Buchhandel und an die „Entscheider“ in den Feuilletons appellieren: Literaturzeitschriften sind kein Luxus, sondern ein literarischer Fortschrittsmotor, ein intellektueller Nährstoff und ein hohes kulturelles Gut. Nehmt sie in die Hand und kümmert Euch darum!
Hat dies auf Ich sag mal rebloggt.